1968: „Der Geruch der Weltrevolution“

SCHÜLER-REVOLTE Die Bremer Straßenbahn-Proteste vom Januar 1968 waren ein wichtiger Schritt für die Politisierung der Schülerschaft. Sie eskalierten zu Straßenkämpfen mit der Polizei, doch sie waren am Ende erfolgreich: Der Senat nahm die angekündigte Fahrpreis-Erhöhung zurück.

Während der Straßenbahn-Krawalle im Januar 1968 versuchen Polizeibeamte in der Bremer Innenstadt den Fahrer eines Lautsprecher-Wagens aus dem Fahrzeug zu ziehen. Bild: dpa

Rainer Weisel ist Verwaltungs-Referent der Bremer Uni für die Angelegenheiten des AStA. „Jaja“, erinnert er sich an 1968: „Nulltarif - sonst biegen wir die schienen schief“. Ein kraftprotzender Spruch sei das gewesen, er erinnert sich gern an „damals“. Im Januar 1968 besetzten die Bremer Schüler die Straßenbahnschienen und gaben mit einem fünftägigen erfolgreichen Kampf das Zeichen für andere Städte: In Hannover und Dortmund und anderswo wurde Monate später mit dem „Roten Punkt“ für einen Nulltarif im ÖPNV gekämpft. Heute organisiert Weisel die Finanzierung einer solidarischen Umlage für den ÖPNV: rund 280 Euro müssen knapp 20.000 Studierende der Bremer Universität dafür zahlen, dass sie „kostenlos“ den Regionalverkehr nutzen können. Das sind knapp 23 Euro im Monat.

1968 ging es darum, dass die Straßenbahn ihre Fahrscheine von 60 auf 70 Pfennig pro Fahrschein erhöhen wollte, für Schüler von 33,3 auf 40 Pfennig. Das sorgte in der Bevölkerung für Unmut, aber groß zu protestieren wäre kaum jemanden in den Sinn gekommen. Dafür gab es keine Vorbilder.

Nicht einmal eine Universität gab es damals in Bremen. Aber die Kunde von den Studentenunruhen in Berlin war in die Provinz geschwappt und hatte die Schüler erreicht. „Das eigentlich Bewegende war ja nicht der Groschen, sondern dass etwas passierte“, erinnerte sich später eine beteiligte Schülerin.

Rund 25 Euro würde es jeden Steuerzahler kosten, wenn der Staat heute „Nulltarif“ für alle anbieten würde, sagt der Chef der Bremer Straßenbahn-AG, Wilfried Eisenberg. Oder etwas mehr – denn wenn das Angebot verkehrspolitisch „wirkt“ und zu deutlich mehr Fahrten führt, braucht die Tram mehr Fahrzeuge und Personal. Rund 100 Millionen „Fahrten“ wickelt die Bremer BSAG derzeit im Jahr ab, nimmt damit etwas mehr als 100 Millionen Euro ein. Etwa die Hälfte, das wären monatlich 10 Euro pro Steuerzahler, schießt die Stadt Bremen bisher zu. Zum Vergleich: Für das Bremer Theater zahlt Bremen pro Steuerzahler pro Monat gut vier Euro Zuschuss. Da das Theater nur rund zehn Prozent seiner Ausgaben über den Kartenverkauf verdient, käme „Theater zum Nulltarif“ kaum teurer für das leere Bremer Stadtsäckel.

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Und Bremen wurde regiert von aufgeschlossenen Sozialdemokraten. Die neue Bürgermeister Hans Koschnick (38) hatte seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 1967 festgestellt, dass „die junge Generation und nicht nur die Studentenschaft von einer nicht unbeträchtlichen Unruhe über den Zustand unserer Gesellschaft befallen ist. Das ist auch meine Meinung. … Wir müssen erkennen, dass die junge Generation, auch die junge Studentenschaft, recht hat ...“ Als Senatsdirektor war der Jurist Waldemar Klischies zuständig für den Polizeiapparat: „Ich bin mit Vorstellungen von Zivilisierung und Liberalisierung der Polizei mein Amt angetreten“, erklärte er später rückblickend.

Den Bremer Schülern, die 1967 das Aufbegehren probten, ging es um alles Mögliche – nicht um Fahrpreise der Straßenbahn. „Geiles Jugendleben; mit Feten, Saufen, endlosen Diskussionen“ notierte der damalige Schüler Joachim Barloschky später, „Fahrten FKK-Paddelgruppe mit Wochenendtouren auf Weser, Wümme und Hamme, 1967 erstmals Teilnahme am Ostermarsch mit selbst gebasteltem Peace-Zeichen auf gelber Öljacke“. Barloschky war zuletzt 20 Jahre lang „Quartiersmanager“ im Bremer Migranten-Stadtteil Osterholz-Tenever. Sein Freund Robert Bücking, heute Ortsamtsleiter im Bremer Ostertor, war damals von der Schule geflogen, weil er ein Plakat „Schluss mit der Onanie am Lehrerpult“ ausgehängt und gegen den „Zensurenterror“ Klassenbücher geklaut hatte.

Aber auch die Politik beschäftigte die Schüler. Im Fernsehen konnte man 1967 alles hautnah mitbekommen. Malte Goosmann, Spross einer ursozialdemokratischen Familie, Großvater war nach dem ersten Weltkrieg Abgeordneter der linken USPD gewesen, erinnert sich an den 2. Juni 1967: „Wir haben die Bilder im Fernsehen nicht für möglich gehalten. Diese sogenannten Jubelperser, die mit langen Latten, ohne von der deutschen Polizei daran gehindert zu werden, auf die Demonstranten eingeprügelt haben. Es herrschte absolutes Entsetzen, daß so etwas möglich ist in Deutschland.“

Die aufmüpfigen Schüler gründeten einen „Unabhängigen Schülerbund“, dessen Schülerzeitungen nicht zensiert werden konnten. „Adam - nach dem Sündenfall“ hieß das hektografierte Blatt, darin war ein „Plädoyer für eine menschenfreundliche Sexualmoral“ zu lesen, Adam versprach „Nachhilfeunterricht in Liebeserziehung“. Der Verfasser titulierte als „Jesus“ – Hermann Rademann, der inzwischen in Hamburg studierte und öfter nach Bremen kam, wenn da was los war. Er war der rhetorisch herausregende Sprecher der Schülerrevolte. Zu weihnachten 1967 demonstrierten die Kinder aus gutbürgerlichem Hause vor dem Bremer Dom gegen „diese unerträgliche Sentimentalität, dieses Weihnachtsgetue und diese unerträgliche Parallelität von Krieg und Elend in der Welt und diesem Glöckchengeklingel zu Hause“. Auf Plakaten stand provozierend: „Napalm - Lichterglanz über Vietnam“. Der Dombauherr Henry Lamotte wollte das weder sehen noch hören, deswegen wurde das verteilen von Flugblättern und Demonstrationen auf den Domtreppenförmlich untersagt.

In diesen Herbst 1967 fiel der Beschluss der Straßenbahn, die Preise zu erhöhen. Es waren ganze 12 Schüler, die am 14. Januar 1968 beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. Am 15. Januar trafen sich vielleicht fünfzig Schüler gegen 17 Uhr an der Domsheide, einem Verkehrknotenpunkt. „Nach einiger Zeit haben wir uns bescheiden hingesetzt, andere verteilten die Flugblätter und hatten ziemlich große Angst, dass wir von den Leuten verprügelt werden, die schnell nach Hause wollten“, erinnerte sich später ein Teilnehmer.“ Wir hatten auch keine Vorstellungen, was die Polizei mit uns macht, es war ja die erste Aktion dieses Typs.“ Die Überraschung: Passanten unterstützen die Schüler.

„Es war nicht geplant, dass wir eine Straßenbahn anhalten. Wir haben gezittert vor Angst.“

Dienstag, der 16. Januar: Morgens tagte der Senat und war unsicher. Die Polizei schickte einen Wasserwerfer. Nachmittags kamen 1.500 Menschen zum Protest.

Mittwoch 17. Januar: Die Polizei versuchen Polizeibeamte, die Schüler mit Ketten zurückzudrängen. Helge Burwitz erinnerte sich: „Womit die nicht gerechnet haben: Wir haben eine zweite Reihe gebildet. In der ersten Reihe haben wir genau wie die Polizisten gedrängelt. In der zweiten Reihe sind Leute in die Knie gegangen und haben zwischen den Beinen durch die Füße der Polizisten gepackt und ihnen die Schuhe ausgezogen. Die meisten trugen damals noch nicht diese Kampfstiefel, sondern ganz normale, etwas festere Halbschuhe, die man schnell vom Fuß ziehen konnte. Die Schuhe wurden nach hinten durchgereicht, über eine Kette weiter gegeben und in die Weser geschmissen.“ An den Wasserwerfern wurden die Ablassventile aufgedreht und die Reifen „entlüftet“.

Donnerstag, 18. Januar:

Mit einer Streitmacht von 700 Polizisten, Wasserwerfern und Gummiknüppeln schlägt die Polizei zurück. Polizeichef Erich von Bock und Polach spornt höchstpersönlich die Beamten an und ruft mitten im Getümmel sein später berühmt gewordenes „Draufhauen, draufhauen, nachsetzen“. Bürgermeister Hans Koschnick selbst hatte eine praktische Idee, wie mit den festgenommenen Schülern umzugehen sei: „Was heißt hier einsperren, ist alles Quatsch, setzt die in Blockland aus, wenn kein Bus mehr fährt, dann können sie laufen.“ Helge Burwitz erinnert sich: „Sie haben uns mit ihrem Mannschaftswagen an den Stadtrand, ins Teufelsmoor und abgelegene Gegenden transportiert. Aber das Gute war natürlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung hinter unserer Aktion stand. Wir haben uns an die Straße gestellt und wurden von vorbeifahrenden Autos mitgenommen, so dass wir unterwegs die Polizeiwagen überholten und schneller in der Stadt waren als die.“

Es gibt Dutzende von Verletzten. Ein hoher Polizeioffizier am Ende des Tages: „Dies ist eine Katastrophe. Der Bruch zwischen uns und der Bevölkerung ist bedrohlich. Der Graben, der uns jetzt trennt, ist kaum wieder zuzuschütten.“

Stahlarbeiter, die auf dem Weg zur Arbeit an der Domsheide vorbei müssen, hatten dem Betriebsrat der Klöcknerhütte von der Lage im Stadtzentrum berichtet. Die Tariferhöhung passte auch den Arbeitern nicht. Abends erklärt der Betriebsrat von 6.000 Stahlarbeitern auf einer IG-Metall-Konferenz, er wolle am kommenden Tag die Belegschaft aufzurufen, an den Demonstrationen teilzunehmen – und reagierte damit auf den DGB-Vorsitzenden Richard Boljahn, der erklärt hatte, die Polizei müsse „mit härtesten Mitteln die Straßen leer fegen“. Da knickt Boljahn, der gleichzeitig SPD-Fraktionsvorsitzender war, ein. Am späten Abend geht er mit dem IG Metall-Vorsitzenden zum Bürgermeister und sagt ihm: „Ihr müsst das zurücknehmen, Klöckner, der Vulkan und die AG Weser marschieren.“

Erst gegen 22 Uhr war es auf der Straße ruhig geworden. Bilanz der Polizei: 21 Straßenbahnen und 14 Omnibusse wurden beschädigt, 94 Demonstranten festgenommen. Bilanz des Demonstranten Robert Bücking: „Wir konnten auf einmal vor Kraft nicht mehr laufen, und es roch nach Schwefel, Teer und Weltrevolution.

Freitag, 19.Januar:

Bürgermeister Hans Koschnick ist nach Nordrhein-Westfalen gefahren, um dort Innenminister Willi Weyer zu treffen. Der hatte 1966 Straßenbahn-Proteste in Köln gehabt. „Ich wollte von ihm wissen, warum hast du das damals in Köln bei den Demonstrationen so gemacht und was sind deine Schlussfolgerungen?“ Währenddessen treffen sich im Bremer Rathaus Vertreter der Schüler mit Vertretern des Senats und der SPD zu einem offenen Gespräch. Robert Bücking: „Wir wussten nicht, warum wir stark waren und warum wir auf einmal so viele waren.“ Die zweite Bürgermeisterin Annemarie Mevissen erinnerte sich rückblickend: „Nach vier Stunden Diskussion hatte ich das Gefühl, dass die jungen Leuten vor der Ausweitung des Konfliktes mit der Polizei Angst hatten.“

Nachmittags soll es eine Erklärung des Senats und eine Kundgebung geben. Der Straßenbahnverkehr wurde vorsorglich eingestellt. Annemarie Mevissen begann ihre kurze Rede mit dem Satz „Dies ist eine legale Demonstration zu einer Sachfrage.“ Das war die Anerkennung der Demonstranten. Am Wochenende verständigte sich der Senat darauf, die die Fahrpreiserhöhung zurückzunehmen. In der Sondersitzung der Bürgerschaft am Montag wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss gebildet. Thema: Das Einschreiten der Polizei.

Als der Bremer Autor Detlev Michelers ende der 1990er Jahre die Beteiligten für sein Buch über die Bremer Straßenbahn-Unruhen interviewte, sagte Koschnick ihm, er frage sich auch 30 Jahre später noch, „warum ich das, was ich in der Regierungserklärung als Leitlinie für den Umgang mit der jüngeren Generation gesagt habe, nicht immer gleich nach der Staatsgewalt zu schreien, sondern, wenn die Jugend Probleme hat, erst einmal im Dialog zu versuchen, herauszufinden wohin die Sache geht, nicht umgesetzt habe.“

Zusammengestellt nach dem Buch von Detlef Michelers: „Draufhauen, Draufhauen, Nachsetzen! Die Bremer Schülerbewegung, die Straßenbahndemonstrationen und ihre Folgen 1967/70“, Verlag Temmen 2002, 200 S., 9,90 Euro
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