Junge Tunesier über drei Jahre Arabellion: „Wir leben in einer neuen Diktatur“

Vor drei Jahren nahm der Arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang. Der Optimist, der Realist, die Pessimistin: Drei junge Tunesier ziehen Bilanz.

Zeit des Aufbruchs: Demonstration in Tunis am 14. Januar 2011. Bild: dpa

TUNIS taz | Karim Bhiri, Nibras Hadhili und Lina Ben Mhenni haben eines gemeinsam. Sie sind jung und doch schon so etwas wie Veteranen. Jeder der drei trug in den Tagen von Mitte Dezember 2010 bis zum 14. Januar 2011 seinen Teil zum Sturz des tunesischen Diktators Zine El Abidine Ben Ali bei. Heute, drei Jahre später, schauen sie zurück und nach vorn

„Wir stehen doch gut da im Vergleich mit anderen Ländern, wie Ägypten, Libyen oder gar Syrien“, sagt Karim Bhiri. Der 32-jährige Grafikdesigner empfängt in seinem Studio in der Innenstadt von Tunis, unweit der Metrostation République. Baseballmütze, Bart, eine Lederjacke mit dem Emblem einer US-amerikanischen Motorradmarke, Karim pflegt einen Stil irgendwo zwischen der Banlieu von Paris und dem, was er aus Videoclips der Rapper aus Übersee kennt.

Damals, als die Menschen gegen die Diktatur auf die Straße gingen, war er bieder gekleidet und glatt rasiert. Der junge Mann aus Sidi Bouzid im Landesinneren, von wo die Revolution nach der Selbstverbrennung eines fliegenden Händlers Mitte Dezember 2010 ihren Ausgang nahm, beendete gerade sein Studium in der Hauptstadt. Mit Handy, Kamera und Kugelschreiber bewaffnet zog er durch die Straßen, hielt fest, was er sah und veröffentlichte auf Facebook. „Die erste digitale Revolution“, nennt er das, was er damals hautnah miterlebte.

Sein Studio läuft gut. „Ich habe in allen politischen Lagern Kunden“, berichtet er. Neben dem Drucker liegen Aufträge der Gewerkschaft UGTT und der islamistischen Regierungspartei Ennahda. Vor ein paar Wochen hat sich Karim, der sich mit einem Bruder und zwei Freunden eine Wohnung in der Innenstadt teilt, verlobt. Im Laufe des Jahres wird er wohl seine eigene Familie gründen.

„Auf einem guten Weg“

Heute, drei Jahre nach dem Sturz der Diktatur, ist Karim immer noch optimistisch. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt er. Die ständigen Debatten zwischen weltlich orientierten Politikern und den regierenden Islamisten werde von den Medien aufgebauscht. „Wir sind ein kleines Land und wir können zusammenleben“, ist er sich sicher. Zum Beweis öffnet Karim in einem der drei großen Computer auf seinem Schreibtisch ein Bild. Es zeigt ein Protest-Sit-in von jungen Arbeitslosen in seiner Heimat Sidi Bouzid vor wenigen Wochen. Fünf junge Männer hocken auf dem Boden und spielen Karten. „Meine Freunde: Der eine ist Fußballer, der andere Kommunist, der hier ist ein Salafist, der hier verkauft Alkohol“, sagt Karim. „Das ist für mich Tunesien“, fügt er hinzu.

Krise: Zwei Morde an Oppositionspolitikern haben 2013 in Tunesien zu Massenprotesten gegen die von der islamistischen Ennahda dominierte Regierung geführt. Angesichts der politischen Krise kam ein durch die Gewerkschaft UGTT und weitere gesellschaftliche Organisationen vermittelter Nationaler Dialog zustande, der sich über Monate hinzog.

Regierung: Am 9. Januar trat schließlich Regierungschef Ali Larayedh wie vereinbart zurück, sein Nachfolger wird der parteilose Industrieminister Mehdi Jomaa. Die Vorgaben des Nationalen Dialogs sehen vor, dass bis zu den nächsten Wahlen nur Unabhängige in der Regierung sitzen.

Verfassung: Derzeit stimmt die Verfassunggebende Versammlung über die einzelnen Paragrafen eines neuen Grundgesetzes ab, das eine Gleichstellung der Geschlechter vorsieht und keinen Bezug zur Scharia enthält. Es muss mit zwei Drittel der Stimmen angenommen werden. (b.s.)

„Nach der Unabhängigkeit haben die Tunesier ein Boot gebaut“, beschreibt er. „Die Revolution hat es zu Wasser gebracht, und wir mussten feststellen, dass so manche Installation nicht richtig funktioniert. Jetzt bauen wir bei voller Fahrt um. Das ist nicht leicht, aber wir werden das meistern“. Sobald die neue Verfassung stehe, die gerade Artikel für Artikel durchs Parlament gestimmt wird, werde das Land seine Zukunft gestalten.

„Es wurde nichts erfüllt“

Nibras Hadhili ist vorsichtiger. „Ich bin Realist. Wir durchleben einen Prozess voller Gefahren“, sagt der 27-jährige Informatiker, der sich als freier Journalist verdingt. Bereits vor der Revolution berichtete er für Radio Kalima, einem oppositionellen Internetsender, aus Sfax, im Süden des Landes, wo er studierte. Jetzt ist der Sohn eines Gewerkschafters bei Hiwar El Tounsi (Tunesischer Dialog), einem Satellitenfernsehen, das säkularen Stimmen und der Zivilgesellschaft breiten Sendeplatz einräumt. Er lebt in einem kleinen Appartement im Zentrum von Tunis. „Ohne elterlichen Zuschuss ginge das nicht“, sagt er.

„Im Zentrum der Revolution standen soziale Forderungen. Doch davon wurde nichts erfüllt“, sagt Nibras, der bis zum Ende seines Studiums in der Studentengewerkschaft UGET aktiv war. Sein Rapperlook aus den Tagen an der Universität ist einem Pullover und einem Wollschal gewichen. „Die Arbeitslosigkeit nimmt weiter zu, die Lage ist hochexplosiv“, warnt er und verweist auf die vielen Proteste überall im Land. Landwirte und Überlandtaxen blockierten dieser Tage die großen Verkehrsadern Tunesiens aus Protest gegen steigende KFZ-Steuern, Mediziner gehen auf die Straße, Zollbeamte veranstalten an den Grenzübergängen Sit-ins, Jugendliche besetzen Verwaltungsgebäude, selbst die Richter streiken. Immer wieder kommt es bei Proteten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

„Dank der Freiheiten – allen voran die Meinungsfreiheit –, die wir erkämpft haben, ist die Möglichkeit zum Wechsel gegeben, die Gefahr der Islamisierung ist geringer als zum Beispiel in Ägypten, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns“, sagt Nibras. Für ihn ist die Verfassung ebenfalls ein wichtiger Schritt. „Aber sie ist so offen, so allgemeingültig, dass mit ihr fast alles möglich ist. Es kommt darauf an, wer in den nächsten Jahren regiert und das politische System ausgestaltet“, warnt Nibras.

„Eine neue Diktatur“

Für Lina Ben Mhenni spielt all das längst keine Rolle mehr. „Ich bin sehr pessimistisch, was die Zukunft Tunesiens angeht“, sagt die 30-jährige Anglistikprofessorin an der Universität in Tunis, die mit ihrem schmalen Salär noch bei ihren Eltern lebt. Die Islamisten hätten die Revolution entführt. „Wir leben längst in einer neuen Diktatur“, schimpft die wohl bekannteste Vertreterin ihrer Generation. Lina Ben Mhenni ist das „Tunisian Girl“, so der Titel ihres Blogs, in dem sie von Anfang an aus den Unruheherden im Landesinneren berichtet. Die zierliche Frau wurde mehrfach im Ausland preisgekrönt und selbst für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

„Heute ist nur noch die Rede von der Identität Tunesiens, von der Religion. Ich kann mich nicht erinnern, dass dafür irgendjemand demonstriert hat“, sagt sie. Lina berichtet von der Verfolgung Intellektueller, von Gerichtsverfahren gegen Künstler und Journalisten.

Die junge Frau redet leidenschaftlich und wirkt gleichzeitig nervös, ja wie gehetzt. „Ein Terrorist, der verhaftet wurde, nannte beim Verhör meinen Namen“, berichtet sie. Dass die Gefahr tatsächlich real ist, zeigen die beiden Morde an linken Oppositionspolitikern im Februar und Juli vergangenen Jahres, die Tunesien in eine tiefe Krise stürzten. Lina bewegt sich deshalb ständig mit Leibwächtern. Das ist so etwas wie der allmähliche Tod einer Bloggerin. „Ich kann nicht mehr herumreisen und mir die Proteste im Land anschauen“, sagt Lina mit gedrückter Stimme. Denn vor allem im Landesinneren kommt es seit einem Jahr immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Armee und radikalen Islamisten.

„Wir Jugendlichen haben uns nicht richtig organisiert. Das hat dazu geführt, dass die Parteien alles an sich gerissen haben“, sagt Lina nach kurzem Nachdenken.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.