Wiederentdeckung von Christian Geissler: Ein Mangel an Gemütlichkeit

Christian Geissler war ein radikaler Autor, politisch und ästhetisch. Jetzt ist er vergessen. Doch der Verbrecher Verlag wird seine Werke neu auflegen.

Ein unerschöpflich aufmerksamer Zuhörer: Christian Geissler Bild: Detlef Grumbach

Manchmal atmen die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft auf, wenn ein Autor nach seinem Tod nach und nach in Vergessenheit gerät. Etwas komplizierter verhält sich der Fall bei dem vor fünf Jahren gestorbenen Christian Geissler. Werke wie „Das Brot mit der Feile“, „Wird Zeit, dass wir leben“ und der heftig diskutierte Roman „kamalatta“ von 1988 riefen zwar im Feuilleton Kritiker der vorderen Reihe auf den Plan. Dennoch wurde der Autor ab den neunziger Jahren vom Literaturbetrieb zunehmend wie ein toter Hund behandelt.

Das lag zum einen an ihm selbst und seiner sperrigen Haltung gegenüber diesem Betrieb, auch wenn Christian Geissler ein sehr freundlicher und nachgerade höflicher Mann war, ein unerschöpflich aufmerksamer Zuhörer zumal. Zum anderen lag es aber daran, dass das Feuilleton nicht nur mit der radikalen politischen Position des Autors Schwierigkeiten hatte, sondern mehr noch vor seiner radikalen ästhetischen Position kapitulierte. Geissler galt als hermetisch, und irgendwann war man froh, sich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen zu müssen.

Die Literaturwissenschaft hat gar nicht erst mit dieser Auseinandersetzung begonnen, mit der rühmlichen Ausnahme von Sven Kramer, der in Lüneburg Neuere deutsche Literatur lehrt und seinem Fach bescheinigt, es habe Geisslers Werk aus der deutschen Literaturgeschichte praktisch ausgegrenzt. Trotzdem hat sich jetzt der Berliner Verbrecher Verlag, seit jeher bekannt für verdienstvolle tollkühne Unternehmen, entschlossen, eine Werkauswahl von Christian Geissler zu publizieren. Begonnen hat sie mit dem Roman „Wird Zeit, dass wir leben“ von 1976, an dem man sehr schön sehen kann, wie weit Geisslers Ästhetik von dem erzählerischen Biedermeier entfernt war, das heute unsere Literatur dominiert.

Geissler hat dem Roman den Untertitel „Geschichte einer exemplarischen Aktion“ gegeben. Erzählt wird von einer Befreiungsaktion aus einem Hamburger Gefängnis um 1934/35, die dem KPD-Funktionär Schlosser und einigen Mithäftlingen gilt. An der Aktion ist maßgeblich der Polizist Leo Kantfisch beteiligt, Wachmann im Untersuchungsgefängnis, mit ihm seine Geliebte Karo, der Hilfsarbeiter Rigo und einige andere Kommunisten, die nicht länger jener Stillhaltetaktik der praktisch zerschlagenen KPD folgen möchten, die auch der befreite Schlosser vertreten hat.

Christian Geissler: „Wird Zeit, dass wir leben“. Nachwort von Detlef Grumbach. Verbrecher Verlag, Berlin 2013, 357 Seiten, 22 Euro.

Dieser Geschichte liegt ein authentischer Fall zugrunde, der allerdings nicht so erfolgreich ausgegangen ist wie im Roman. Über die Hintergründe klärt das kenntnisreiche Nachwort von Detlef Grumbach auf. Christian Geissler selbst verweist in einer knappen Vorbemerkung ebenfalls darauf. Seine Quelle war eine Publikation der Vereinigung der Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes aus dem Jahr 1971. „Ich fand diesen Hinweis so wichtig, die Vorstellung von einem Schließer, der es lernt, aufzuschließen, dass ich hier weiterarbeiten wollte.“

Leben als gegenwärtige Praxis

Politisch geht es in dem Roman vor allem um die Spannung von (Partei-)Disziplin und Spontaneität, von Massenbewegung und gewaltsamer Aktion kleiner Gruppen. Geissler stellt das Dilemma dar: auf der einen Seite die Partei, die sich vorrangig um die eigene Fortexistenz und die Erhaltung des Apparats sorgt, deren Führung überwiegend emigriert ist, auf der anderen Seite eben die exemplarischen Aktionen kleiner Gruppen, deren eine hier geschildert wird.

Es handelt sich um Leute, die nicht stillhalten und langsam dahinsterben wollen, sondern sagen: Wird Zeit, dass wir leben. Leben, nicht als Zukunftsmodell, sondern als gegenwärtige Praxis, ist ein Begriff, der in Geisslers Werk eine herausragende Rolle spielt. Auf diesen lebensphilosophisch-existentialistischen Zug in Geisslers Werk hat Kramer aufmerksam gemacht. Insofern ist es programmatisch, wenn die „Werkschau“ genannte Geissler-Ausgabe mit jenem Buch beginnt, das die Forderung nach Leben im Titel führt.

Geissler, in der Nachkriegszeit selbst Mitglied der illegalen KPD, macht es sich nicht einfach. Er zeichnet nicht das holzschnittartige Bild des abgehobenen Funktionärs, der die Menschen nicht mehr versteht, die er zu vertreten meint, und ergreift auch nicht umstandslos die Partei derjenigen, die zur gewaltsamen Aktion schreiten. In einem ähnlichen Zwiespalt hat der Autor auch in Hinsicht auf die RAF gestanden, von der er sich nicht distanzierte, deren Aktionen er aber auch kritisiert hat. Im Roman finden sich leicht zu entschlüsselnde Hinweise auf diesen zeitgeschichtlichen Bezug.

Holzschnitte sind ohnehin nicht Geisslers Metier gewesen, und Didaktik ist aus seinen Romanen verbannt. Saubere Mädel und proletarische Genossen, wie sie Michael Rohrwasser in seinem Klassiker zur Arbeiterliteratur ausfindig machte, gibt es hier nicht. Die Proletarier etwa landen hier und da, wie in der realen Geschichte, bei den braunen Verbänden, die schließlich auch fürs „Volk“ kämpfen. Langfristig war deshalb auch die DDR-Literaturwissenschaft, die Geisslers Werk lange aufmerksamer verfolgt hat als die westdeutsche, von diesem Autor enttäuscht. Für den sozialistischen Realismus, musste man feststellen, war er verloren.

Kein Glaube an den „Charakter“

Die Erzählung setzt weit vor 1933 ein, mit Bildern aus der Weimarer Republik und selbst aus dem vorangegangenen Krieg. Die eigentliche Befreiungsaktion nimmt sogar den knappsten Raum ein. Was vorher entwickelt wird, könnte man ein Panorama der gesellschaftlichen Verhältnisse in Hamburg und Umgebung zwischen 1918 und 1933 nennen, wenn der Begriff Panorama nicht so etwas wie breite Epik und klassischen Realismus assoziieren würde. Dafür aber ist Geissler ebenfalls nicht zu vereinnahmen, schon deshalb nicht, weil er zu ungemütlich ist.

Denn „Wird Zeit, dass wir leben“ ist keine gemütliche Lektüre. Zunächst spürt man in fast jeder Zeile den eigentlichen Antrieb des Buches, und das ist der Hass: der Klassenhass inklusive des Selbsthasses der Intellektuellen, den der Hamburger Bauunternehmerssohn Geissler, ob nun bewusst oder nicht, in die Figur des Krischan Pietsch verlegt hat, seines Zeichens Lehrer, aber auch ein bisschen Dichter. Doch auch der ist, wie alle Figuren dieses Romans, keine Karikatur und kein „Typ“. Durch Geisslers Figuren gehen immer die Widersprüche ihrer Zeit hindurch. An so etwas wie „Charakter“ hat dieser Autor nicht geglaubt.

Dafür an Sprache und Form. Lebensechte Dialoge gibt es in diesem Roman zum Glück nicht, und hier spricht auch keiner, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Mit Brecht wusste Geissler, dass das Volk nicht tümlich ist. Weder ist ein herkömmlich auktorialer Erzähler am Werk, noch befinden wir uns wirklich in den Köpfen der handelnden und leidenden Personen.

(k) wie Kommunist

Etwas pointiert ließe sich sagen, dass es die Verhältnisse und Widersprüche selbst sind, die erzählen und nach vorn drängen, auf eine Entscheidung. Auch die hochartifizielle – und dabei auch hochmusikalische – Sprache, ein Amalgam aus Argot, Dokumentarischem und klassischem Erzählstil, drängt nach vorn, so dass das Buch ein enormes Tempo hat. Durch diesen völligen Mangel an Gemütlichkeit entkommt Geissler bei der Schilderung verschiedener Milieus der Gefahr der Genremalerei.

Wegen seines inhaltlichen Ansatzes ist sein Werk öfter mit Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstandes“ verglichen worden. Der Vergleich liegt nah. Erzähltechnisch und sprachlich aber bietet sich eine andere Parallele an, nämlich die zu Uwe Johnson. Geissler hat Johnson gelesen, und wenn er ihn auch als „bürgerlichen Schriftsteller“ betrachtet haben mag, war er vom erzählerischen Ansatz und der Sprache doch beeindruckt. Auch bei Johnson erzählen eher die Verhältnisse und die Widersprüche, und wie bei Geissler fällt auch dort der Vorwurf des Hermetischen und Unverständlichen in sich zusammen, wenn man wirklich der Bewegung der Form und der Sprache folgt. Das ist eine erregende Leseerfahrung.

Weitere werden sich in den nächsten Jahren machen lassen. Ein fixierter Editionsplan für die Werkschau existiert zwar noch nicht; sicher ist aber, dass alle Romane erscheinen werden und auch die ganz späte Prosa nach „kamalatta“. Dieser späte Christian Geissler setzte hinter seinen Autorennamen ein (k), das betonen sollte, er sei nach wie vor Kommunist. Was das eigentlich bedeutete, hat Lutz Schulenburg 2008 in seinem Nachruf auf Geissler auf den Punkt gebracht. „Kommunismus“, schrieb er, „war für ihn der Gegensatz zu Einsamkeit.“ Davon spricht auch der vorliegende Roman.

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