Der Fortsetzungsroman: Kapitel 4: Der traurige Leopard

Zelterlebnisse, oder: Wie Mütterchen zu Mütterchen wurde.

Mit dem Zelten verbinden sich ungewohnte Freiheiten. Bild: Archiv Streisand

Nach ihrer Scheidung fing Mütterchen an zu zelten. „Ick will keenen Mann mehr“, hat sie zu ihrer Nachbarin in Karlshorst gesagt, was deren Tochter hörte, die es wiederum Tante Erna erzählte, die es mir erzählt hat. „Ick habe die Schnauze voll vonna Liebe.“

Ich habe einen Englisch-Aufsatz gefunden, den sie in den Achtzigern an der Volkshochschule geschrieben hat. Thema: „Would you like to live and work in the countryside?“

Sie schreibt, Landleben sei nett für die Ferien, aber sie würde niemals richtig da wohnen können. „Meine Eltern hatten ein kleines Haus mit Garten“, schreibt sie. „jedes Mal, wenn ich zum Spielen raus wollte, musste ich Blumen gießen oder Unkraut zupfen. Ich hasste es!“ Dann schreibt sie von der Ostsee. Dreizehn Jahre jeden Sommer sechs Wochen Bakenberg. „That was a wonderful time“, schreibt sie.

Die gesamte Belegschaft des Deutschen Theaters verbrachte die Theaterferien in Bakenberg auf Rügen.

Jedes Weihnachten saß die Familie unterm Tannenbaum und füllte Anträge aus für den Zeltplatz. „Man durfte ja höchstens zwei Wochen am Stück“, sagt Tante Erna, „weil die Zeltplätze nicht reichten. Wir haben immer gleich Anträge für 30 Familien geschrieben, damit mindestens drei durchkommen und wir die sechs Wochen da bleiben konnten.“

Aus Streisand wurde Meier, Müller oder Schulze. Mal waren es Paare mit Zwillingen, mal eine Mutter mit Sohn. „Für manche von den ausgedachten Familien haben wir uns richtige Biografien überlegt. Die waren in einem Jahr frisch verheiratet und im nächsten schon wieder geschieden.“ Wie Mütterchen das hingekriegt hat, dass die drei da sechs Wochen unter verschiedenen Namen bleiben konnten? Keine Ahnung.

Das Zelt, in dem Erna, Beate und Mütterchen schliefen, war ein normales Drei-Mann-Zelt, braun, mit Alu-Gestänge. Das Überzelt aber, das war ein Unikat. Mütterchen hatte es selbst genäht. Aus irgendeinem weißem Stoff. „Das war unglaublich“, sagt Tante Erna, „das ganze Balkonzimmer in Karlshorst war weiß. Und ganz hinten in der Ecke saß meine Mutter an einem winzigen Klapptischchen und nähte mit ihrer winzigen Nähmaschine an diesem riesigen Haufen Stoff.“ Heraus kam jenes Überzelt, das von allen nur „die Flugzeughalle“ genannt wurde. 25 Leute hatten darunter Platz, um Fischsuppe zu essen oder Spiele zu spielen oder Schnaps zu trinken. „Unser Zelt stand in der Mitte“, erzählt Tante Erna. „und alle anderen satellitenartig drumherum.“

Blöd war nur, wenn es regnete. Dann wurden die Falten des Stoffes zu Badewannen, die das Wasser auffingen. Niemals durfte man seinem ersten Impuls folgen und mit der Hand dagegen schlagen, sonst wurde der Stoff sofort undicht. „Wartete man aber zu lange“, sagt Erna, „dann riss das Zeug und das ganze Wasser ergoss sich über Klamotten und Kochtöpfe.“

Die Risse flickte Mütterchen Jahr für Jahr mit Wachstuch, das sie irgendwo aufgetrieben hatte. Irgendwann schleppte sie riesige Mengen Kunstleder an. Mit Tigermuster. Das wurde ebenfalls im Zelt verarbeitet. Deshalb wurde die Flugzeughalle dann umgetauft in „der traurige Leopard“.

Gehalten wurde der Leopard von einer Konstruktion aus Metallstangen, die wiederum am zarten Gestänge des Drei-Mann-Zeltes befestigt waren. „Mütterchen hatte da wieder irgendeinen Deal gemacht mit den DT-Werkstätten“, sagt Tante Erna, „die hatten an der einen Stange noch eine zweite, längere festgeschweißt.“

Das Überzelt ruhte also mit seinem kompletten Gewicht auf der Apsis des Drei-Mann-Zeltes. „Jeder Mensch, der an unserem Zelt vorbeikam, der auch nur ein bisschen Ahnung von Statik hatte, hat immer nur den Kopp jeschüttelt“, sagt Tante Erna.

Und dann war Sturm. Mit Starkregen. Natürlich nachts. Und die Stange brach. Und das Zelt stürzte zusammen. Erna war zehn, Beate 14. Der ganze Zeltplatz rannte los, um einen Baumstamm zu finden, mit dem man das Zelt stützen konnte. Und Lothar Dimke, damals Schauspieler am DT, der hat das Zelt gehalten. Auf seinen Schultern! Wie Atlas stand er da. In leicht gebeugter Haltung. Und der Schweiß rann ihm in Strömen von der Stirn.

Bis die anderen eine kleine Birke anschleppten, die stark genug war.

„Jedes Jahr war irgendwas mit dem Scheißteil!“, erinnert sich Tante Erna, „Entweder es schwamm weg oder es flog weg. Ständig war der ganze Zeltplatz mit unserem Zelt beschäftigt. Aber nach der Aktion mit der Mittelstange sagten alle: ,Nu is gut, Mütterchen! Jetz koof dir mal ’n richtjet Zelt!‘“

Eines der Spiele, die in Bakenberg immer gespielt wurden, war das „Was-wäre-derjenige-wenn-Spiel“. Einer denkt sich eine Person und die anderen stellen Fragen. Was wäre derjenige, wenn er eine Blume wäre? Was wäre derjenige, wenn er ein Möbelstück wäre? Ein Urzeitmensch?

Meine Großmutter wäre eine Sonnenblume. Groß, bisschen aufdringlich, von allen geliebt und sehr praktisch. Als Möbelstück wäre sie ihr eigener Sessel, ein irres Teil aus massivem Holz und Polster mit verstellbarer Rückenlehne und angebautem Klapptisch. Als Urzeitmensch wäre sie Hordenmutter geworden. Das hat sie selber gesagt: „Ich wäre Hordenmutter geworden.“

Seitdem hieß Mütterchen „Mütterchen“.

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