Debatte Sexueller Missbrauch: Du Opfer!

Viel wurde im Sommer über sexuelle Gewalt an Kindern debattiert – fast folgenlos. Die Stigmatisierung der Opfer ist geblieben und damit das Schweigen.

Opfer sind keine Helden. So wird das gesehen hierzulande Bild: dpa

Was ist geblieben von der im Sommer heftig geführten Debatte über Pädophilie, sexuelle Gewalt an Kindern und Machtmissbrauch? Die Grünen kostete sie wertvolle Stimmen, und PolitikerInnen zwang sie zum Rücktritt.

Danach aber passiert nicht mehr viel. Es scheint, als sei mit dem Wahlkampf auch der Kampf um den Schutz von Kindern eingestellt worden. Als interessiere das jetzt niemanden mehr – nicht die Parteien, nicht die neue Bundesregierung, nicht die Medien. Wer redet heute von den Opfern? Wer redet mit ihnen?

Das tun vor allem diejenigen, die das vorher auch schon getan haben: Beratungsstellen, sogenannte Missbrauchsbeauftragte, Therapeuten. Sie alle hatten gehofft, dass nach dem öffentlichen Diskurs mit den Opfern anders umgegangen wird. Dass die Sensibilität für sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen und für die zugrunde liegenden Strukturen wächst. Und dass diese Strukturen nachhaltig zerschlagen werden.

Zwar ist das Problem inzwischen bekannter als früher und auch denen bewusst geworden, die es bislang nicht wahrhaben wollten. Ansonsten aber ist kaum etwas passiert. Die Zahl sexueller Übergriffe an Minderjährigen ist so hoch wie zuvor. Jedes Jahr werden 12.000 bis 16.000 Taten angezeigt. Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig spricht von 100.000 Fällen pro Jahr.

Unterfinanziertes Beratungsnetz

Aber das Beratungsnetz ist nach wie vor löchrig und chronisch unterfinanziert, ländliche Gegenden sind unterversorgt. Angebote für Jungs und Männer sowie Menschen mit Behinderungen sind noch immer rar. Opfern, die außerhalb der katholischen Kirche finanzielle Entschädigung beantragen, um ihre teuren Therapien bezahlen zu können, werden keine Geldleistungen angeboten. Dafür Massagesessel, Gehhilfen, Zahnspangen.

Die Opfer fühlen sich genauso unbeachtet, gedemütigt und alleingelassen wie all die Jahrzehnte zuvor. Und das, nachdem medial so groß angelegten runden Tisch, an dem drei Ministerinnen saßen und am Ende „zahlreiche Erfolge“ verkündeten.

Und was plant die künftige schwarz-rote Bundesregierung? Sie will immerhin die strafrechtliche Verjährungsfrist für Missbrauch verlängern; künftig soll die Verjährung nicht vor dem 30. Lebensjahr der Opfer einsetzen. So steht es im Koalitionsvertrag. Da steht auch, dass die „Tätigkeit“ des unabhängigen Beauftragten für Fragen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen gesichert ist. Die „Tätigkeit“, nicht die Stelle. Was heißt das? Wird der Beauftragte demnächst in irgendein Referat im Familienministerium „eingeordnet“? Verliert er damit seine bisherige Unabhängigkeit? Schweigen.

Irgendwie unzurechnungsfähig

In Deutschland gibt es schätzungsweise 9 Millionen Missbrauchsopfer. Das sind mehr Menschen, als zusammen in Berlin, München, Köln, Hamburg, Stuttgart und Frankfurt am Main wohnen. Sie leben unter und mit uns, sie sind Freunde, PartnerInnen, NachbarInnen, KollegInnen. Von vielen wissen wir nicht, was ihnen widerfahren ist. Die meisten haben ihr Schicksal fest in sich verschlossen, sie schweigen. Nur rund 1.200 von ihnen haben sich öffentlich geoutet. Man hätte sich gewünscht, dass es mehr werden, dass Missbrauch so viele Gesichter bekommt, wie er hat. Aber das ist nicht passiert. Warum nicht?

Opfer sexueller Gewalt zu sein geht noch immer mit Stigmatisierung einher. Daran hat die Debatte seit 2010, als massenhaft Fälle in kirchlichen Einrichtungen bekannt wurden, nichts geändert. Missbrauchsopfer gelten gemeinhin als dauerhaft geschädigt, als irgendwie nicht zurechnungsfähig. Opfer zu sein ist ein Makel, den man nicht mehr loskriegt.

Das erleben diejenigen, die den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt haben, immer wieder. Viele arbeiten in Beratungsstellen und anderen Hilfseinrichtungen, sie sind TraumaberaterInnen und TherapeutInnen. Sie sagen häufig Sätze wie: „Seit ich mich geoutet habe, werde ich nicht mehr so ernst genommen wie vorher.“ Missbrauch bedeutet „lebenslänglich“ – ohne selbst schuldig geworden zu sein.

Diese Herabwürdigung von erlebtem Leid wird auch nicht aufgehoben durch die Tatsache, dass es selbst an Elitebildungseinrichtungen wie dem Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule massenhaft Missbrauchsfälle gab. Im Gegenteil.

Die Opferhierarchie

Die AbsolventInnen dieser Schulen sind heute vielfach erfolgreiche PolitikerInnen, SchriftstellerInnen, ManagerInnen. Und sie gehen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – nicht damit an die Öffentlichkeit. Denn hierzulande gilt das ungeschriebene Gesetz: Wer erfolgreich sein will, darf kein Opfer sein, auch nicht gewesen sein. Denn Opfer sind diejenigen, die es nicht geschafft haben, die es ziemlich sicher nie schaffen werden.

Es gibt so etwas wie eine unausgesprochene Opferhierarchie: Ganz oben stehen die EliteschülerInnen, dann kommen die Opfer aus den kirchlichen Einrichtungen, danach die familiären Opfer und am Schluss die aus den Heimen. Die Heimkinder haben schon lange vor 2010 versucht, sich Gehör zu verschaffen. Aber es ist ihnen nicht gelungen, niemand wollte sich damit befassen. Nicht die Politik, nicht die Parteien, nicht die Medien.

Das legt den Verdacht nahe, dass es zu der breit geführten Debatte nicht gekommen wäre, wären nicht die Opfer des renommierten Canisius-Kollegs aufgestanden.

Mittlerweile versuchen sich andere Gruppen in den Diskurs einzuschalten, Gruppen, die am Rande der Gesellschaft stehen und in die Mitte drängen. Rechtsextreme beispielsweise nutzen die Debatte, in dem sie auf ihren Autos mit drastischen Forderungen für eine „Todesstrafe für Kindesschänder“ werben. Das ist Missbrach mit dem Missbrauch. Den Rechtsradikalen geht es dabei nicht um die Opfer, sondern um das Verbreiten einer inhumanen wie schlichten Ideologie. Die Opfer werden instrumentalisiert.

Dagegen wehren sie sich. Eher im Verborgenen und weniger öffentlich. Denn sie haben verstanden, dass eine kurzzeitig laut geführte Debatte nicht unbedingt erfolgversprechend sein muss.

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Ressortleiterin taz.de / Regie. Zuvor Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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