Der Politik Beine machen

In Bremen und Chemnitz warten SchülerInnen nicht, bis die Bundesregierung die Nichtdiskriminierungsrichtlinien der EU umsetzt. Sie werden aktiv und drängen ihre Stadtparlamente zum Handeln

„Unsere Stadt ohne Rassismus“ – die Botschaft eines ungewöhnlichen Projekts hat sich herumgesprochen. Jetzt wollen die jungen Chemnitzerinnen und Chemnitzer wissen, was es mit dieser Aktion auf sich hat. „Das ist ja übelst gut, Gymnasiasten, Mittelschüler und Förderschüler auf einem Haufen zu erleben. Normalerweise wollen die eigentlich nichts miteinander zu tun haben“, ist aus einer Ecke zu hören. Neugierige Blicke schweifen durch den Musikraum des Dr. W. André Gymnasiums. Die Schule liegt auf dem Kaßberg, dem nach der Wende sanierten und wunderschönen Jugendstilviertel. Viele suchen noch einen Sitzplatz, einige setzen sich gleich auf den Fußboden.

Dirk Eidner, Vorsitzender des Stadtschülerrats, wird allmählich nervös: „Das sind ja weit über hundert Leute!“ Mit so viel Andrang hat keiner gerechnet. „Für eine Antidiskriminierungsagenda in unserer Stadt“, so lautete der Aufruf, den die Bundeskoordination von „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ (SOR-SMC) im Oktober 2004 an alle Chemnitzer Schulen schickte. Die meisten Schülerinnen und Schüler kommen aus den fünf Schulen, die dem SOR-SMC-Netzwerk angehören. Aber auch Vertreter aus zehn weiteren Schulen sind an diesem Tag anwesend.

Zugegeben. Das Wortungetüm „Antidiskriminierungsagenda“ ist eine Herausforderung. Umso überraschender ist die Lebhaftigkeit der Debatte. Viele Fragen schwirren durch den Raum. „Nimmt man nun die Benachteiligung aufgrund der ethnischen Herkunft oder der sexuellen Orientierung mit auf? Oder dominiert doch die Diskriminierung aufgrund des Alters in unserer Stadt?“ Ein kurzes, heftiges Auflachen unter den Jugendlichen. Denn Chemnitz ist die Stadt mit den meisten Rentnern in ganz Deutschland. Auch Jan Voigtmann, Pate der Unteren Luisenschule in Chemnitz, eine SOR-SMC-Schule, ist gekommen. Als Veranstalter vom „Splash“, dem größten HipHop-Festival in Europa, das jährlich am Oberrabensteinsee stattfindet, weiß er: „Wir Chemnitzer müssen uns dafür einsetzen, dass unsere Stadt nicht von Menschen gemieden wird, die Angst vor rassistischen Übergriffen haben.“

Vormachen, wie es geht

Einige Jugendliche sind skeptisch. Sie können sich schwer vorstellen, wie sie eine Zwei-Drittel-Mehrheit des städtischen Parlaments für eine lokale Nichtdiskriminierungsagenda gewinnen sollen. Denn das ist das Ziel von „Chemnitz ohne Rassismus – Chemnitz mit Courage“. Sie wissen, dass die rot-grüne Bundesregierung es nicht geschafft hat, die europäischen Nichtdiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht umzusetzen. Schuld daran sind Innenminister Schily, der mangelnde politische Wille, aber auch der Widerstand aus den Kirchen und der Wirtschaft. Einer der Schüler fragt in den Raum: „Wie können wir Jugendlichen etwas auf unsere Kommune übertragen, woran die erwachsenen Politiker im Bundestag scheitern?“ Eine Schülerin antwortet prompt: „Dann machen wir denen eben vor, wie es geht!“

Peter Streubel, Landeskoordinator von SOR-SMC in Sachsen, lässt sich nicht beirren. Er glaubt an die Möglichkeiten der politischen Partizipation von Jugendlichen: „Ich bin überzeugt, dass die Kinder und Jugendlichen etwas bewegen können. Wichtig ist nun, dass sie sich untereinander vernetzten und Unterstützer in der ganzen Stadt finden.“

Einer dieser Unterstützer ist Tom Lehmann, Herausgeber des Stadtmagazins 371. Gemeinsam mit Grit Kluge, Mitarbeiterin beim Netzwerk für Demokratie und Courage Sachsen, unterstützt er die Schülerschaft seit dem Herbst 2004 bei der Entwicklung der Antidiskriminierungsagenda und der notwendigen Öffentlichkeitsarbeit. Bei einer Sitzung der Arbeitsgruppe Politik wird über den Aktionsplan der Projektmitglieder diskutiert. Das Ziel, 70 Prozent der Chemnitzer Abgeordneten zur Unterzeichnung der Antidiskriminierungsagenda zu gewinnen, finden einige unter ihnen nicht ausreichend. Wie die Schülerin Laura Piotrowski meinen sie: Die Antidiskriminierungsagenda muss nicht nur vom Stadtparlament, sondern auch von Wohnungsbaugesellschaften, privaten Betrieben und öffentlichen Institutionen wie beispielsweise Krankenhäusern unterstützt werden. „Diskriminierung findet doch auch am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche statt. Homosexuellen Pärchen zum Beispiel will doch keiner eine Wohnung geben, obwohl es in Chemnitz ja genug Leerstand gibt“, begründet Laura Piotrowski ihre Kritik.

Ihre Forderung ist eindeutig: Chemnitz braucht ein Jugendparlament, dass den Jugendlichen politische Partizipation ermöglicht und für das Thema Antidiskriminierung sensibilisiert. Tibor Szabo, Schüler am Sportgymnasium, beklagt: „In Chemnitz haben Jugendliche viel zu wenig Möglichkeiten, politisch einzugreifen. Da ist mit ein Grund, weshalb sich viele Schüler für rechte Gruppen oder die gymnasiale Burschenschaft interessieren. Sie haben den Eindruck: Die machen wenigstens etwas und haben auch noch Spaß miteinander.“

Nach der ersten Veranstaltung im Herbst 2004 gab es in Chemnitz im Verlauf des Jahres 2005 mehr als dreißig Arbeitstreffen. Eine Arbeitsgruppe erarbeitete eine Nichtdiskriminierungsagenda. Für diese werden sie nun in den nächsten Wochen um breite Unterstützung in Chemnitz werben. Schüler wie beispielsweise Tibor Szabo beschäftigten sich mit den Aktivitäten rechter Burschenschaften, die für ihre antidemokratische Ideen an den Schulen werben. Wieder andere verschafften sich einen Überblick über die rechtsextremistische Szene in Chemnitz (siehe Seite 3).

Um das Projekt „Unsere Stadt ohne Rassismus“ nun zum stadtweiten Gespräch zu machen, organisiert die AG Event für Ende Januar 2006 eine ganztägige Veranstaltung. Am Vormittag gibt es eine Informationsveranstaltung für die Chemnitzer Bürger und die Politiker. Am Abend steigt dann die Party mit Konzerten lokaler Bands.

Auch in Bremen wollen Schülerinnen und Schüler ihre Kommune zu einer „Stadt ohne Rassismus“ machen. Regelmäßig treffen sie sich in Arbeitsgruppen, um den Aktionsplan für die nächsten Monate auszuarbeiten. Jugendliche aus den 13 SOR-SMC-Schulen der Stadt sind daran beteiligt. Karin Schlichting, Landeskoordinatorin in Bremen und Mitarbeiterin der Landeszentrale für politische Bildung: „Für uns bietet dieses Projekt die Chance, dass die vielen Bremer SOR-Schulen miteinander in Kontakt treten und an einer gemeinsamen Sache arbeiten.“ In den zurückliegenden Monaten haben sich die Jugendlichen vor allem mit der Verbreitung rechter Musik-CDs auf den Schulhöfen und den Aktivitäten der Rechten im Bremer Umland, insbesondere in dem nahe gelegenen Verden beschäftigt.

In den nächsten Tagen, vom 13. bis zum 15. Dezember, werden die Mitglieder der Projektgruppe einen Stand in der Bremischen Bürgerschaft aufbauen, um die Abgeordneten direkt anzusprechen, um sie so für die Unterstützung ihrer Antidiskriminierungsagenda zu gewinnen. „Wir stehen ihnen dann auch gerne Rede und Antwort, weil wir felsenfest davon überzeugt sind, dass Bremen eine Antidiskriminierungsagenda braucht, um vor allem den Rechten das Wasser abzugraben“, meint Rike Uhlenkamp vom Schulzentrum Walle.

Auch wenn die jungen Menschen die Abgeordneten in den Stadtparlamenten nicht mehrheitlich für eine Stadt ohne Rassismus gewinnen können, so bleibt ihnen das Vertrauen darauf, dass sie als die Erwachsenen von morgen langfristig mit ihrem Engagement ein Zeichen gegen Diskriminierung und für ihre Zukunft gesetzt haben.

HG, AS, KM