Neue brasilianische Literatur: Nichtsnutzige kleine Nihilisten

Sie erzählen von Mythen und Aussteigern: Daniel Galeras „Flut“ und Paulo Scotts „Unwirkliche Bewohner“ als Beispiel der neueren brasilianischen Literatur.

In Paulo Scotts „Unwirkliche Bewohner“ ist Porto Alegre alles andere als idyllisch. Bild: ap

Paulo ist Anfang 20 und schlittert gerade in eine tiefe Existenzkrise. Er entstammt einem mittelständischen Haushalt in Porto Alegre, wohnt noch bei den Eltern. Die südbrasilianische Provinzmetropole ist eine Hochburg des PT (Partido dos Trabalhadores), der in den 1980er Jahren, in denen Paulo Scotts Roman „Unwirkliche Bewohner“ einsetzt, noch ein gutes Stück vom Präsidentenamt entfernt ist.

Paulo hat gerade den Basiskomitees der PT in Porto Alegre den Rücken gekehrt – „Ich schäme mich dafür, wir wir uns entwickelt haben“ –, seine juristische Ausbildung abgebrochen und an der Bundesstraße 116 die 14-jährige Indigena Maína kennengelernt. Seine Mutter schimpft ihn einen „nichtsnutzigen kleinen Nihilisten“.

„Paulo verliert nicht gern die Kontrolle“, charakterisiert Scott seine jugendliche Hauptfigur. Doch er wird sie verlieren, ohne dabei zur Gänze unterzugehen. Paulo will die illegitime Beziehung zu Maína leben. Er holt sie zwischendurch zu sich in die Stadt, zieht dann in einem naiv anmutenden Versuch zu ihr. Beides bleibt schwierig. Mithilfe eines Freundes errichtet er eine Hütte in der Indianersiedlung an der Bundesstraße 116.

Daniel Galera: „Flut“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 425 Seiten, 22,95 Euro

Paulo Scott: „Unwirkliche Bewohner“. Wagenbach Verlag, Berlin 2013. 256 Seiten, 19,90 Euro

Am Rande der Rassen- und Klassengesellschaft

Er will etwas tun, hier am Rande der brasilianischen Rassen-und Klassengesellschaft, und mit dieser Guaraní sprechenden, geheimnisvollen jungen Frau, die Scott auf gewisse Weise reflektierter und entschlossener darstellt als den großstädtischen Paulo, zusammen sein.

Doch dann rollt ein Ball auf die Bundesstraße 116, zwei Polizisten mit Ray-Ban-Sonnenbrillen steigen aus ihrem Auto – „sie könnten kaum klischeehafter wirken“ –, und das vorgezeichnete Unheil nimmt seinen Lauf.

Aber nicht so, wie man nun vielleicht denken mag. Dafür hat der 1966 geborene Scott seine Erzählung viel zu geschickt angelegt, eine wahnsinnig gute Squatter-Episode in London eingebaut – „Trainspotting“ auf brasilianisch? –, in deren Mittelpunkt neben anderen Migranten Rener aus Paris steht, „diese hochgewachsene Schwarze“, die sich vor der Action mittels Eigenblutdoping (Spritze in die Pobacke) in Schwung bringt.

Existenzialistische Zuspitzung

„Unwirkliche Bewohner“ ist sprachlich prägnant (ins Deutsche übersetzt von Marianne Gareis) universell und auf mehreren Ebenen komponiert. Die Unbedingtheit der Charaktere wirkt dabei verstörend. Sie sind bereit, alles hier und jetzt füreinander zu geben, suchen die zumindest temporäre existenzialistische Zuspitzung, mit unterschiedlichen Folgen für die Beteiligten in London, Porto Alegre oder eben an der Bundesstraße 116.

Bei Scott liegt das allegorische Prinzip in einer als Kettenbrief weitergereichten Zeitung verborgen. Die Person, die die Zeitung hat, porträtiert darin eine andere Person, die dann als nächste die Zeitung erhält und die Idee fortsetzen muss. Ein subjektiv-objektives System ohne festgelegte Richtung. Der durch die Willkür des Individuums herbeigeführte Zufall ist Motor und Triebkraft einer Geschichte, die bei aller Skepsis nie abgeschlossen sein wird, also beeinflussbar ist.

Die menschliche Form des Kettenbriefs in Scotts Roman heißt Donato und wird als Kleinkind am Strand von Garopaba weitergereicht, um ein anfänglich fast noch kolonial anmutendes Beziehungssetting gegen Ende der Erzählung postkolonial herauszufordern.

Mikrokosmos einer konservativ-dörflichen Gemeinde

Das im Süden Brasiliens am Atlantik gelegene Fischerstädtchen Garopaba spielt auch die Hauptrolle in dem bemerkenswerten Roman „Flut“. Der 1979 geborene Daniel Galera hat ihn verfasst, und er ist ebenfalls vorzüglich geschrieben (Übersetzung: Nicolai von Schweder-Schreiner). Ist Scotts Roman als eine Reise in eine nahende, aber noch utopische Zukunft zu verstehen, so verankert der eine Generation jüngere Galera den zu erforschenden Mythos in der Vergangenheit. Die große Politik ist dabei völlig abwesend. Erforscht wird der Mikrokosmos einer konservativ-dörflichen Gemeinde.

Galera hat sich einen Helden von 33-Jahren geschaffen, kein Intellektueller, ein Triathlet, der als Lauf- und Schwimmlehrer sein Geld verdient. In der dramatischen Eingangsszene von „Flut“ hat der Vater den Erzähler einbestellt. Eine Pistole liegt auf dem Tisch. Die Familie des Erzählers liegt in Trümmern, Eltern geschieden, der Bruder ist mit seiner Ex verheiratet.

Der Vater eröffnet dem Sohn wider dessen Willen, dass er sich erschießen würde (er ist todkrank, will nicht mehr), dass der Sohn sich um die Hündin Beta kümmern müsse (er solle sie einschläfern lassen) und dass sein Großvater, der Gaucho – „er hatte die Kraft eines Pferdes“ – Ende der 1960er Jahre ermordet worden sei.

Es gab nie eine Leiche

In Garopaba, bei einem Dorffest: „Als das Fest richtig in Gang ist, geht plötzlich das Licht aus. Und als es eine Minute später wieder angeht, liegt mitten im Saal der Gaucho mit zig Stichwunden in einer Blutlache. Alle haben ihn getötet, oder anders gesagt niemand. Die Stadt hat ihn getötet.“ So hat es der ermittelnde Kommissar damals gesagt. Nur, es gab nie eine Leiche.

Der Vater wird sich erschießen, der Erzähler in Galeras Roman die Hündin Beta nicht einschläfern, sondern mit nach Garopaba nehmen, um dort die Spur des familiären Mythos wieder aufzunehmen. Was war damals wirklich geschehen? Doch in Garopaba stößt er auf eine Mauer des Schweigens. Der Erzähler ist zwar offenkundig freundlicher geraten als sein mysteriöser Großvater, doch er hat dessen Sportlichkeit, Sturheit und Aussehen geerbt.

In vielem – der Körperlichkeit, den nihilistischen Zügen – gleichen sich die Figuren aus Scotts und Galeras Romanen. Nur ist die Konfrontation mit dem Außen bei Galera deutlich härter ausgefallen, das konservative Gegenüber greifbarer wie auch am Ende die verstockte und unerreichbare Gestalt aus dem Wald. Es ist bei „Flut“ ein Ringen mit sich selbst, mit einem etwas arg bizarren, doch nicht fatalistischen Ende. Die Geschichte wiederholt sich nicht.

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