Schafe hüten: Dem Himmel so nah

Ihr Beruf ist vom Aussterben bedroht und bringt kaum Geld. Warum Schäferin Verena Jahnke trotzdem gerne ihren Bürojob aufgegeben hat.

„Nach Malle“ würde sie schon mal fahren. Aber lieber nach Neuseeland, zum Schafehüten: Verena Jahnke. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG-BERGEDORF taz | Das mannshohe Schilf hat Verena Jahnke verschluckt, es raschelt, platscht, als sie die verlorenen Schafe sucht. Wööööööö, hört man sie rufen, ihre Stimme vibriert, wöööööö. Plötzlich teilt sich das Dickicht und heraus marschiert die Schäferin, 22 Jahre, ein Stock in der Hand, gefolgt von zwei weißen und vier schwarzen Schafen.

Dass Verena Jahnke nach getaner Arbeit noch einmal losmuss, um ausgebüxte Schafe einzusammeln, ist für sie selbstverständlich – gerade am Wochenende, wenn Spaziergänger die Pfähle des Elektrozauns aus der Erde ziehen, weil sie lieber am Deich als auf der Straße flanieren. Verena Jahnke lächelt dann, als habe sie sich damit abgefunden, dass sie einen Beruf ausübt, den viele Menschen gar nicht wahrnehmen.

Der Beruf des Schäfers ist einer der ältesten Berufe der Menschheit und ein Beruf, den die Zeit vertreibt. Weil ihn fast niemand mehr versteht.

Weder die Politiker, die beschlossen haben, dass jedes Schaf spezielle Ohrmarken tragen muss – die sollen die medizinische Überwachung der Schafe verbessern, kosten aber pro Tier 3 Euro. Noch die Urheber der Agrarreform, die durchgesetzt haben, dass Schäfer nicht mehr auf Mutterschafe Prämien erhalten, sondern auf die Fläche, die ihre Tiere abgrasen – viele Schäfer mit kleinen Herden haben daraufhin ihre Tiere verkauft. Weder die Umweltschützer, die die Schäfer gern von ihren Weiden vertreiben würden, damit seltene Pflanzen wieder aus der Erde sprießen. Noch die Anwohner – wie etwa die Frau neulich, die in Lockenwicklern aus ihrer Wohnung gestürmt kam und Verena Jahnke anschrie, weil die Schafe auf ihr Grundstück koteten.

Immer weniger Betriebe

Und jetzt scheint auch noch die Natur selbst die Schäfer zu vertreiben. Denn der Wolf ist zurück, auch hier, entlang der Elbe. In dieser Nacht reißt er hundert Kilometer südlich ein Mutterschaf und vier Lämmer.

Gab es 2008 noch 28.500 Betriebe und 2,4 Millionen Schafe in Deutschland, waren es bei der letzten Zählung des Bauernverbands 2012 nur noch 10.500 Betriebe mit mehr als 20 Schafen und insgesamt 1,5 Millionen Schafe. Auch die Weideflächen werden weniger, seit Biogasanlagen subventioniert werden und die Bauern auf ihren Feldern Getreide anbauen. Und der Verkauf des Fleisches ist auch nicht besonders lukrativ – pro Jahr verspeist der Deutsche im Durchschnitt ein Kilo Schaffleisch, davon stammen aber nur 460 Gramm Fleisch aus deutscher Viehzucht.

Schäfer gibt es eigentlich nur noch, weil sie von der EU subventioniert werden – für die von ihnen ausgeübte „Landschaftspflege“. So heißt das, wenn die Schafe ungenutzte Flächen wie den Deich abgrasen. Dafür erhalten die Schäfer umgerechnet etwa 3 Euro pro Stunde, wenn überhaupt, rechnet Verena Jahnke vor. Warum zum Teufel will eine junge Frau heute noch Schäferin werden?

Leben im Wohnwagen

„Sicher ist heutzutage eh kein Job mehr“, sagt sie. „Mit den Schafen, da kannst du zumindest leben, wie du willst.“ Und Verena Jahnke will das so: ein Wohnwagen, Aufschrift „Comtesse 530“, drinnen goldenes Plüschsofa, Küchenzeile, verschnörkelte Holzschränke. Draußen eine Feuerstelle, daneben ein grüner Plastiktisch mit pinkfarbenen Campingstühlen.

Rechts ein Wasserkanister, links der Wohnwagen eines Gesellen, und rundherum Hunde, elf insgesamt. Ihr Gekläff hört man noch am anderen Ende der Lichtung bei Hamburg-Bergedorf. Hier, auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz, der mittags prall in der Sonne liegt, hat Verena Jahnke ihr mobiles Zuhause aufgestellt.

In 200 Meter Abstand hat sie eine Furche in Form eines Halbkreises in das halbhohe Gras gemäht. Darauf flitzt ihre Hündin Wanka hin und her, wenn sie die Schafe hütet, wie an diesem Spätnachmittag. Mäh, määh, schreit ein Lamm, es klingt schrill, hoch. Määääääh, erwidert ein großes Schaf. Das Leittier.

Verena Jahnkes Augen sind darin geübt, die etwa 30 Schafe zusammenzuhalten – die muskulösen Suffolkschafe mit dem dunklen Kopf und dem hellen Fell. Jahnke nennt sie auch „Drecksviehzeug“, weil sie oft stur sind und sich nicht in die Gruppe einordnen wollen. Daneben gibt es die braunen Bergschafe und die Schwarzkopfschafe – ,„friedliche Tiere, die sich gut um die Lämmer kümmern“ – und ein paar unberechenbare Ziegen.

Aber mehr noch als die Schafe muss Verena Jahnke ihre Schäferhündin im Auge behalten. Zum Beispiel jetzt: Ein Schaf stakst auf eine Böschung zu und schon bäumt sich das Tier vor ihm auf und fletscht die Zähne. „Aus, Wanka, aus“, schreit Jahnke und hebt den Stock. „Wanka ist jung und übereifrig, bei ihr muss man aufpassen, dass sie nicht gleich zubeißt.“

Schon der Vater hielt Schafe

An diesem Spätsommerabend kommt Verenas Vater zum Grillen, auch er ist Schäfer und stets in Begleitung seiner acht Hunde. Gerd Jahnke lebt eine Autostunde entfernt in der Lüneberger Heide, auf einem Hof mit Pferden, Kaninchen und 600 Schnucken, die er in der Heide hütet. Seit 30 Jahren treibt er die Herde, die nun seine Tochter betreut, im April an den Elbdeich etwa 10 Kilometer südlich von Hamburg und im November wieder zurück. Die Schafe überwintern zwar im Freien, aber in der Heide kann er sie zumindest mit Heu füttern, wenn der Boden gefroren ist.

Seine Tochter Verena wollte eigentlich nicht Schäferin werden. Zwar hat sie im Schafstall Partys organisiert und ihren Vater oft bei der Arbeit begleitet. Aber er selbst habe ihr abgeraten, sagt sie – zu wenig Verdienst, keine Zukunft. Ein halbes Jahr lang hat sie dann in der Kanzlei eines Rechtsanwalts gearbeitet. Da saß sie also, von 8 bis 18 Uhr. Mal auf der einen Pobacke, dann auf der anderen. Nach dem ersten Tag begann sie zu kippeln, ganz schlimm war es, wenn niemand das Fenster aufmachen wollte. Und dann der Frust, sagt sie, das Gefühl, nichts zu tun zu haben.

Arbeit hat sie jetzt mehr als genug, aber sie arbeitet gern. Über Tag bildet sie ihre Hunde aus und hütet kleinere Schafherden wie die ihres Vaters. Abends versetzt sie den Zaun am Deich und treibt die Schafe weiter, damit sie am nächsten Tag frisches Gras zu fressen bekommen. Danach versorgt sie die Hunde. Sie allein trägt die Verantwortung für die Schafe ihres Vaters und ihre Schäferhunde.

Macht sie denn nie Urlaub? „Pfff“, macht Verena, „wenn jetzt ein Kumpel sagen würde, fahr mit nach Malle, hab’ alles organisiert, dann würde ich schon mitkommen.“

Einmal Neuseeland

Verena ist ohnehin eine, die nicht lange am Strand liegen kann. Der es leichter fällt, nach nur vier Stunden Schlaf aufzustehen, weil gerade ein Lamm geboren wird, als am Wochenende auszuschlafen. Nach getaner Arbeit trinkt sie gern ein Bier und Whisky mit Cola, an diesem Abend gemeinsam mit ihrem Vater, dem schweigsamen Gesellen aus Polen und dem Kindskopf Detlef vom Nachbarhof, der für ein Taschengeld aushilft. Wenn sich Verena Jahnke überhaupt nach etwas sehnt, dann wäre das Australien. Oder Neuseeland. „Dort einmal Schafe zu hüten, das wär schon toll.“

Über Sehnsüchte und Träume sprechen die Schäfer nicht. Am Feuer fachsimpeln sie, wie viel Kontakt der Schäfer zu seinem Hund halten muss, um eine Herde zusammenhalten können. Oder über den letzten Winter, der so eisig war, dass Verena ihre Haare mit den Fingern abbrechen konnte. Bei der Verantwortung, die Tiere auch über den Winter zu bringen, ist es da nicht absurd zu behaupten, Schäfer hätten ein freies Leben?

„Du hast die Freiheit, dich auszuprobieren"

Der „Chef“ zieht die Brauen hoch. Als Schäfer müsse man jeden Tag neu überlegen, ob man jetzt die Tiere zum Hof zurücktreibt und füttert, weil die Schneedecke gefroren ist. Oder ob man ausnahmsweise mehr Tiere vom Schlachter holen lässt, weil nicht genug Platz um den Hof herum ist. „Du hast die Freiheit, dich auszuprobieren. Du lernst aus deinen Fehlern“, sagt er.

Wenn er bei den Schafen steht, dann denkt er nach, ob er den Lehrling gut unterrichtet hat. Ob er das Gespräch mit dem Nachbarn jetzt wieder so führen würde. „Du bist nicht nur am Machen“, sagt er. „Du hast die Freiheit nachzudenken, ob das richtig war, was du gemacht hast.“

Und die Freiheit, dein eigener Chef zu sein. Verena liebt diese Momente, wenn sie allein auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz ist, die Schafe und die Hunde versorgt hat. Dann fährt sie mit dem Fahrrad einfach geradeaus, quer über die Wiese, gefolgt von einem Rudel Hunde. Hier und da ragen die Disteln majestätisch zum Horizont, darüber steht blass und hart der Himmel. In Abendstunden wie diesen erscheint einem der Himmel ganz nah. Und die Gegenwart flüchtig.

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