Justiz: Warum Sarrazin keine Strafe fürchten muss

Rassismus ist fest im deutschen Rechtssystem verankert, erklärt Iman Attia, Professorin für Migration an der Alice-Salomon-Hochschule, bei einer Veranstaltung des Migrationsrates.

Thilo Sarrazin (SPD) Bild: reuters

Wie kommt es eigentlich, dass die Justiz in Berlin lieber ein internationales Abkommen bricht, als Thilo Sarrazin zu verurteilen? Im April hatte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung eine Rüge veröffentlicht: Es verstoße gegen das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (PDF), dass die Staatsanwaltschaft Sarrazin wegen seiner Äußerungen nicht vor Gericht angeklagt hat. Der Türkische Bund hatte eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Beleidigung erstattet. Nach der Veröffentlichung der Entscheidung prüfte die Staatsanwaltschaft den Vorgang erneut - und wollte Sarrazin immer noch nicht anklagen. Warum nicht?

Iman Attia, Professorin für Diversity Studies/Rassismus und Migration an der Alice-Salomon-Hochschule meint: Ein Polizist, Staatsanwalt oder Richter muss gar keine explizit rassistischen Einstellungen haben, um zu rassistischen Urteilen oder Entscheidungen zu kommen. Es sei nämlich "ein Strukturmerkmal dieser Gesellschaft, dass sie Rassismus institutionalisiert hat", sagte sie am Dienstagabend auf einer Veranstaltung des Migrationsrates Berlin und Brandenburg. Die Gesellschaft und das von ihr geschaffene Recht ist also so rassistisch geprägt, dass es der einzelne Akteur im Justizapparat nicht mehr sein muss.

Antimuslimischer Rassismus zeigt sich nach Attias Analyse in vielfältiger Weise: "Menschen, die als Muslime wahrgenommen werden, werden beschimpft, verdächtigt, belehrt, bevormundet, herabgesetzt - das sind alltägliche Erfahrungen." Das Spektrum der Diskriminierungserfahrungen sei sehr breit und äußere sich nicht nur in Aggression, sondern zum Beispiel auch in Mitleid gerade gegenüber Frauen. Attia: "Ich war in einem Frauenhaus, da wurde es als Befreiung gefeiert, dass eine Frau ihr Kopftuch abgelegt hat." Das Ablegen sei jedoch eher eine Kolonisierung der Frau. Sie fühle sich dazu gedrängt, um Hilfe in dem Frauenhaus zu erhalten.

Die Funktion des antimuslimischen Rassismus ist es nach Attias Aussage, "Privilegien zu sichern und nationale Identität zu revitalisieren". Angesichts begrenzter Ressourcen könne die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft ihren Reichtum nur behalten, wenn sie die Arbeitskraft von Migranten und Illegalen ausbeutet und diesen den Zugang zu Privilegien verwehrt. Der antimuslimische Rassismus diene dazu, diese Diskriminierung zu rechtfertigen und den Diskriminierten die Schuld in die Schuhe zu schieben. Nach dem Motto: Die Muslime sind kriminell, ungebildet und gewalttätig, sie haben also nicht die gleichen Rechte verdient wie weiße Deutsche.

Zwar leugnete auch Attia nicht, dass bestimmte Migrantengruppen häufiger kriminell oder arbeitslos sind. Das hat ihrer Meinung nach allerdings keine religiösen Gründe, sondern soziale und hänge damit zusammen, dass diese Menschen in der Vergangenheit diskriminiert wurden. Die Ursache des Problems seien also nicht die Migranten, sondern die rassistische Gesellschaft.

Richtigstellung zu diesem Artikel von Iman Attia

Der Autor behauptet, ich hätte erklärt, dass Rassismus fest im deutschen Rechtssystem verankert sei. Diese Aussage habe ich nicht gemacht. In meinen Ausführungen zum Unterschied zwischen Vorurteilsforschung und Rassismusforschung habe ich die Begriffe des strukturellen und des institutionellen Rassismus eingeführt und gesagt, dass die Hinzuziehung dieser Ebenen für das Thema "Rassismus und Justiz" bedeuten würde, dass nicht (nur) Einstellungen und Interpretationen einzelner Personen im Rechtssystem auf rassistischen Gehalt und entsprechende Verstrickungen hin zu analysieren seien und Maßnahmen auf dieser Ebene ansetzen müssten, sondern dass das Rechtssystem daraufhin untersucht werden müsste, ob und wie sich rassistische Effekte auf Grund institutioneller Diskriminierung, also Routinen im Handeln und das ganz normale Vorgehen der Justiz ergeben, auch dann, wenn Einzelne nicht rassistisch eingestellt seien oder rassistische Motive hätten. Ich habe

im Vortrag explizit darauf hingewiesen, dass ich keine Rechtswissenschaftlerin bin, dass allerdings erste Arbeiten hierzu in der einschlägigen Literatur zu finden sind. Ich habe also nicht behauptet: "Die Gesellschaft und das von ihr geschaffene Recht ist also so rassistisch geprägt, dass es der einzelne Akteur im Justizapparat nicht mehr sein muss", sondern dass die verschiedenen Ebenen (subjektiv, diskursiv, institutionell und strukturell) in Analysen und bei Gegenmaßnahmen zu berücksichtigen seien.

Auch die Behauptung: "Zwar leugnete auch Attia nicht, dass bestimmte Migrantengruppen häufiger kriminell oder arbeitslos sind" und die Ursache in der rassistischen Gesellschaft zu suchen sei, ist nicht richtig wiedergegeben. Ich habe mich nicht zur Quantität von Kriminalität und Arbeitslosigkeit geäußert, entsprechende Äußerungen und Zahlen also weder bestätigt noch widerlegt. Vielmehr habe ich darauf hingewiesen, dass Bildungsstand, Arbeitslosigkeit, Segregation, Kriminalität und andere Themen als islamische und kulturelle verhandelt würden, es sich dabei aber um soziale und gesellschaftliche handelt, die treffender mit der sozialen und gesellschaftlichen Situation von Migrant_innen und der gesellschaftlichen Struktur dieser Gesellschaft (und nicht der Kultur der Anderen) nachvollzogen werden können, wie dies etwa die Pisa-Studie oder Studien zur institutionellen Diskriminierung in der Schule zeigten.

Missverständlich ist die Aussage "ich war in einem Frauenhaus". Richtig ist, dass ich dort in der Beratung gewaltbetroffener Frauen gearbeitet habe. Das Ablegen eines Kopftuchs habe ich nicht im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Frauenhaus als "Kolonisierung der Frau" bezeichnet, sondern im Zusammenhang mit dem französischen Kolonialismus in Algerien angeführt.

Zu Sarrazin habe ich mich nicht geäußert. Hierzu hat der Co-Referent und Anwalt Hans-Eberhard Schultz die Klage des TBB auf europäischer Ebene zitiert (die im Artikel eingangs genannt wird) und in diesem Zusammenhang erwähnt, dass es interessant sei, zu verfolgen, welche Stellungnahme die zuständigen Stellen in der Sache geben werden. Ob Sarrazin eine Strafe fürchten muss oder nicht (siehe Titel des Artikels), war an diesem Abend kein Thema.

Richtigstellung von Anna-Esther Younes und Iris Rajanayagam im Namen des MRBB

Der Migrationsrat Berlin-Brandenburg (MRBB) weist darauf hin, dass der Artikel dem Rahmen des Workshops und der gesamten Veranstaltungsreihe nicht gerecht wurde und die weiteren Sprecher_innen sowie die Teilnehmer_innendiskussion der Veranstaltung unerwähnt blieben.

Unterstützt von der Bundeszentrale für Politische Bildung wird seit Mai und bis November 2013 eine Veranstaltungsreihe des MRBB zum Thema "Rassismus und Justiz" durchgeführt. Die einzelnen Workshops sind öffentlich zugänglich und bieten eine Plattform zur Information und sollen zur Diskussion und zum Austausch anregen.

Im Fokus der Workshops stehen zwei Leitfragen: 1. Welche verwaltungs-, politik- und organisationsimmanenten Strukturen bedingen Rassismus und ethnische Diskriminierung in der Rechtspflege?

2. Was kann von nichtstaatlicher Seite getan werden, um Rassismus und ethnischer Diskriminierung in der Rechtspflege entgegenzuwirken? Die Veranstaltungsreihe bietet ein Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit den genannten Fragen. Leider verfehlt der genannte Artikel in Wort- und Themenwahl den Charakter der Veranstaltungsreihe und vermittelt keinen adäquaten Eindruck von den Vorträgen und der angeregten Diskussion an diesem Abend.

Das Thema "Rassismus und Justiz" kann - nicht nur aktuell - nicht sensibel genug behandelt werden:

Immer noch erkennt die Bundesregierung den Genozid an Herero und Nama nicht an. Die Morde an Eingewanderten durch die NSU werden durch politisches und juristisches Fehlverhalten und institutionelle Diskriminierung begleitet. Es steht eine Reaktion der Bundesregierung auf die gewonnene Klage des Türkischen Bundes Berlin vor der EU-Kommission gegen rassistische und ethnische Diskriminierung aus. Racial Profiling ist von einem Gericht als rechtswidrig eingestuft worden und dennoch weiterhin polizeiliche Praxis. Neukölln entwirft ein neues Strafmodell, wonach Exekutive und Legislative schneller Jugendliche, die nicht der weißen Mehrheitsgesellschaft angehören, kriminalisieren, verhaften und verurteilen können. Oury Jalloh wird in einer deutschen Gefängniszelle ermordet.

Mit diesen Themen beschäftigt sich die Veranstaltungsreihe des MRBB.

Als Dachverband repräsentiert der MRBB über 70 "Migrant_innen"-Selbstorganisationen. Seit 2011 dokumentieren und veröffentlichen der Migrationsrat und die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt Prozesse zu Racial Profiling vor Berliner Gerichten. Zudem begleitete der MRBB in der Vergangenheit Studien zur Kriminalisierung von Migrant_innen, Schwarzen Menschen und People of Color kritisch und verfasste Stellungnahmen zum Themenkomplex Rassismus und Justiz. Vor diesem Hintergrund finden die Workshops der Reihe statt. Wir begrüßen ausdrücklich die Berichterstattung dazu, die in Zukunft hoffentlich besser recherchiert und in die Öffentlichkeit getragen werden.

Der nächste Workshop der Veranstaltungsreihe "Rassismus und Justiz" findet am 24. September von 18 bis 21 Uhr statt.

Näheres unter: www.mrbb.de oder (030) 61 65 87 55.

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