Erdogan und seine Muslimbrüder: Ein politisches Debakel

Der türkische Regierungschef steht vor den Trümmern seiner Außenpolitik. Bei einer Intervention in Syrien könnten die USA auf ihn angewiesen sein.

Ministerpräsident Tayyip Erdogan muss zum Taschentuch greifen Bild: dpa

ISTANBUL taz | Es ist ein seltener Moment für einen Politiker, erst recht in der Türkei. Als während eines Live-Auftritts von Ministerpräsident Tayyip Erdogan im islamistischen Ülke-TV ein Video eingespielt wird, in dem Mohammed al-Beltagy, ein führender ägyptischer Muslimbruder, einen Brief an seine getötete Tochter verliest, bricht Erdogan in Tränen aus. Schluchzend sagte er, er habe an seine eigenen Töchter denken müssen.

Die Tränen des sonst so aggressiven Politikers wirkten echt. Zu diesem Zeitpunkt am späten Donnerstagabend hatten sich bereits im Laufe des Tages die Vermutungen erhärtet, dass am Vortag in Syrien ein verheerender Giftgasangriff stattgefunden hat.

Erdogan mag erschüttert sein, doch das rührt nicht nur von der Trauer um die Opfer der Gewalt in Ägypten und Syrien her. Der türkische Ministerpräsident steht gleichzeitig vor den Trümmern seiner Außenpolitik.

Nach den bislang erfolglosen Versuchen, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu stürzen, hat nichts den Nerv des türkischen Regierungschefs so getroffen wie der Putsch gegen seinen Bruder im Geiste, Mohammed Mursi. Bis heute weigert sich die Türkei, mit der neuen ägyptischen Regierung zu sprechen. „Für uns bleibt Mohammed Mursi der Präsident Ägyptens“, betonte Erdogan noch an diesem Wochenende.

Auf Mursi gesetzt

Mit Mursi, der noch beim letzten AKP-Parteitag einen prominenten Auftritt hatte, ist der Dreh- und Angelpunkt von Erdogans Politik, die Türkei zu einer dominanten Macht im Nahen Osten zu machen, gefallen. Zusammen mit seinem Außenminister Ahmet Davutoglu hatte er darauf gesetzt, dass die Muslimbrüder nicht nur in Ägypten, sondern auch in Tunesien und vor allem in Syrien die Regierungen stellen würden, mit denen die Türkei dann aus einer Position des großen Bruders heraus zusammenarbeiten könnte.

„Die Außenpolitik Erdogans und Davutoglus hat nicht mehr die Interessen des Landes vertreten, sondern ist nur noch parteipolitischen und religiösen Präferenzen gefolgt“, kritisierte nicht nur Cengiz Candar, einer der bekanntesten türkischen Nahost-Experten. „Erdogan hat die Türkei mit seiner Politik in die totale Isolation geführt“, sagt die Opposition schon seit Wochen.

Erdogan steht alleine da

Denn mit der radikalen Kritik an den ägyptischen Militärs steht Erdogan weitgehend alleine da. Nicht nur die USA und Europa sind wesentlich zurückhaltender, Erdogans bisherige Verbündete in Syrien, Saudi-Arabien und die Golfstaaten haben mit Ausnahme von Katar dem ägyptischen Militär sogar demonstrativ und finanziell unter die Arme gegriffen.

Doch je schriller die Proteste gegen die vermeintliche Doppelzüngigkeit des Westens und der arabischen Monarchien wurden, umso mehr geriet Erdogan ins Abseits. Aber mit dem mutmaßlichen Giftgasangriff in Damaskus könnte sich für Erdogan die Situation ändern. Die USA, die zunehmend erbost über die türkische Unterstützung der Nusra-Front und anderer islamistischer Extremisten in Syrien waren, könnten bei einer Intervention in Syrien doch wieder die Türkei benötigen.

Erdogan weiß das und lässt seinen Außenminister deshalb seit Tagen eine Militärintervention fordern. „Alle rote Linien sind längst überschritten“, sagte Davutoglu im Gespräch mit seinem deutschen Kollegen Westerwelle vor wenigen Tagen. Was ein internationaler Krieg in Syrien für die Türkei bedeuten würde, scheint Erdogan gleichgültig.

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