Fotoausstellung in der Hamburger Kunsthalle: Betrachter auf System-Entzug

Die schwarz-weißen Tier- und Naturfotos des Hamburgers Jochen Lempert wirken altmodisch brav und sind doch die totale Täuschung. Und ziehen das naturwissenschaftlich-strukturbesessene Interpretieren von Welt in Zweifel.

Zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion: Jochen Lemperts "Anschütz". Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2012

HAMBURG taz | Wie war das doch gleich bei Platon? Der Mensch sieht nur die Schatten, die das Feuer in seiner Höhle wirft, aber nicht die Realität da draußen? Und wenn er ins grelle Tageslicht träte, wäre er derart geblendet, dass er lieber das Abbild für wahr hielte als die Wirklichkeit? Solche Gedanken von Täuschung, Schein und Sein können einem auch bei den Fotos des Biologen Jochen Lempert kommen, die die Hamburger Kunsthalle derzeit präsentiert.

Lempert hat zwar kein Feuer gemacht, aber er arbeitet mit Abbild und Täuschung, wenn er Tiere, Menschen, Pflanzen oder Wolken fotografiert. Strukturen und Analogien hält er fest. Konventionell, analog und schwarz-weiß, hat er sie auf einfaches Papier gebracht und ein Geschoss der reinweißen Galerie der Gegenwart damit vollgehängt. Oft sind es mehrere, leicht variierte Fotos desselben Motivs, und das soll aussehen wie eine wissenschaftliche Versuchsanordnung.

Ausgestopfte Köpfe

Aber Lempert tut nur so, denn nichts ist, wie es scheint. Die großen Vogelköpfe zum Beispiel, wie lauter kleine Fahndungsfotos schachbrettartig zu einem Plakat gefügt: Sie sind ausgestopft, und Lempert ist in allerlei wissenschaftliche Sammlungen gereist, um sie alle zu finden.

Die geheimnisvolle Serie wurde schon vielerorts gezeigt und gilt als Prototyp Lempert’schen Schaffens. Denn sie wird in dem Moment interessant, in dem man seinen Irrtum bemerkt. Da kippt mit der Wahrnehmung das Gefühl, da öffnet sich poetischer, fast schamanischer Raum: Hat Lempert den Toten neues Leben eingehaucht? Den Vergessenen Gesichter gegeben, ihnen ein ordentliches fotografisches Begräbnis verschafft?

Fest steht, sie sind posthum zu echten Protagonisten geworden, was die Wissenschaft – und Lempert ist ja selbst ein Wissenschaftler – Tieren sonst selten zugesteht. Auch seine Leuchtkäfer sind überraschend autonom: Sich selbst belichtend, sind sie übers Fotopapier gekrabbelt und haben ein zartes Leuchtmuster hinterlassen. Und die Seerosen, die er im Wasserbad über dem Fotopapier schwimmen und weiße Diapositiv-Abdrücke hinterlassen ließ, wirken wie kleine, verletzte Monde.

Das sind Experimente, die überraschende Fragen aufwerfen: Sind Fotografieren und Belichten natürliche Prozesse? Was bedeutet es für unser Selbstverständnis, wenn sich Natur selbst aufzeichnet und den Menschen nur noch als Handlanger fürs technische Equipment braucht? Da rührt man plötzlich an das, was die Welt – nach Goethe – im Innersten zusammenhält, vielleicht auch an deren Beginn. Denn der zum Riesen vergrößerte Glühwurm auf einem anderen Lempert-Bild: Er könnte als Spiralnebel durchgehen, als erster Erd-Nebel überhaupt. Dann wäre der Betrachter sozusagen beim Urknall live dabei.

Spiel mit der Wissenschaft

Lempert, der selbst einmal eine Insektenart entdeckte, spielt mit solchen naturwissenschaftlichen Themen, holt immer wieder die Realität in die Kunst und macht neue Assoziationsangebote – etwa, wenn er eine kleine Frucht neben ein Eichhorn-Auge hängt und die frappierende Ähnlichkeit demonstriert.

Dann wieder fotografiert er mehrmals dieselben vier Schwäne, die sich immer wieder umgruppieren. Folgen sie einem Prinzip, oder bildet sich der Beobachter das bloß ein? Das ist keine Frage ans Individuum, sondern an Wissenschaft und Gesellschaft: Ist es nicht manisch, überall ein System hineinzubringen – nur, damit der menschliche Geist ein bisschen besser begreift?

Lempert spielt nicht nur mit fotografischer Täuschung, er hinterfragt auch unser Hintrainiertsein auf das Finden von Strukturen, auf das Erkennen einer klaren Grammatik von Welt, die wir aus fragmentarischen Beobachtungen ableiten – und anschließend als Naturgesetz verkaufen.

Lempert spielt mit dem Betrachter, wirft ihm Motiv-Konglomerate vor und suggeriert, es gebe gemeinsame Strukturen. Gleich darauf bricht er diese These durch kleine, unspektakuläre Bilder – von einer Fliege etwa oder von zwei Falten auf der Straße. Die Tierchen ziehen als selbst- und zielbewusste Subjekte ihre Bahn und sind gänzlich unberührt von unserer Sucht nach System.

Auch formal zieht Lempert dem Betrachter den Boden unter den Füßen weg, denn seine Fotos sind grobkörnig bis zur Unschärfe. Das führt dazu, dass winzige Vögel am Himmel mit der Körnung des Fotos verschwimmen; sie gehen im Wortsinn in den Bildgrund ein. Anderswo hat Lempert die Struktur eines Blattes derart riesig – und unscharf – abgebildet, dass man nur noch einzelne Punkte sieht, die man nicht mehr sinnvoll zuordnen kann.

Teppich aus Punkten

Die Idee dahinter: Je näher man herangeht, desto ähnlicher werden sich die Dinge – bis ein Teppich aus Punkten übrig bleibt. Aus Atomen, die vielleicht mal ein einziges waren und seither auseinanderdriften, wie esdas gesamte Universum tut. Das kann man spirituell deuten oder auch nicht. Jochen Lempert, der studierte Biologe mit dem Fotoapparat, kommt einem allerdings eher wie ein zweifelnder Agnostiker vor.

bis 20. September, Hamburg, Kunsthalle
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