Kommentar Wohnungslosigkeit: Der Wille zum Weggucken

Die Zahl der Obdachlosen steigt rasant. Doch die Gesellschaft schaut weg. Selbst eine amtliche Statistik über die Zahl der Ausgegrenzten fehlt.

Niemand will wissen, wie viele es sind: Obdachlose in Berlin. Bild: dpa

Die Verfasstheit einer Gesellschaft zeigt sich besonders gut an deren Rändern. Genau dort, wo die wenigsten gern hinschauen, sind rund 284.000 Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen. Ihre Zahl ist laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) in den letzten beiden Jahren um satte 15 Prozent angestiegen.

Es ist ein Skandal, dass eine wohlhabende Gesellschaft wie unsere es zulässt, dass sich Hunderttausende Menschen an diesem Rand befinden – und manchmal von dort runterfallen. Zumal die Wohnungslosigkeit mehrere Grundrechte wie die körperliche Unversehrtheit oder die Menschenwürde verletzt.

Es ist bezeichnend, dass die Zahl der Wohnungslosen nur auf Schätzungen beruht. Obwohl in Deutschland fast alles erfasst wird, gibt es keine amtliche Wohnungslosenstatistik.

Dass eine solche nicht unmöglich, sondern eine Frage des politischen Willens ist, zeigt das Beispiel Nordrhein-Westfalen, wo es eine solche amtliche Statistik gibt. Auch wenn diese nicht unumstritten ist, könnten andere Länder sowie der Bund dieses Modell übernehmen – doch sie schauen lieber weg. Und das, obwohl die BAGW von einem weiteren Anstieg von 30 Prozent bis 2016 ausgeht.

Um dieser Entwicklung entgegenzutreten, reicht die gut ausgebaute Nothilfe nicht aus. Die Entscheidungsträger müssten die immensen Probleme, die das Leid am Rande der Gesellschaft verursachen, bei den Wurzeln anpacken. Beispielsweise steigen die Mietpreise, während Sozialwohnungen knapper werden.

Auch die zu geringe Grundsicherung oder die Verarmung der unteren Einkommensgruppen kommen als Indikatoren der sozialen Lage hinzu. Solange die Gesellschaft lieber wegschaut, kann ihr in Sachen Gerechtigkeit kein gutes Zeugnis ausgestellt werden.

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Jahrgang 1984, ist Autor der taz in Frankfurt. Bereits seit Kindertagen spielt er gern mit Worten. Hat deshalb Philosophie studiert (und Mathematik). Nach Stationen bei Radio (Spaß) und Fernsehen (Öffentlich-Rechtlich) schreibt er ein Buch (Grundeinkommen) und berichtet seit mehreren Jahren für die taz, die Frankfurter Rundschau, Zeit Online, den Freitag, das Neue Deutschland und verschiedene Lokalzeitungen über das politische Zeitgeschehen, soziale Bewegungen, gesellschaftlichen Stillstand, Medien, Fußball und über diejenigen, die sonst keine Stimme bekommen.

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