Porträts auf 96 Seiten

DOKUMENTATION Sprachlerntagebücher sollen Kindern beim Wechsel von der Kita in die Grundschule helfen. Doch haben Erzieher Zeit dafür? Und wie sensibel sind die Daten?

Experten sehen in den Büchern ein Mittel, das zur individuellen Förderung geeignet ist

VON OLE SCHULZ

Es ist ein schlichter, grüner Ordner mit vier Hauptteilen und 96 Einlageblättern: das sogenannte Sprachlerntagebuch. Nach der Einführung des „Berliner Bildungsprogramms“ muss es seit 2006 von den ErzieherInnen für jedes Kitakind der Stadt geführt werden. Sie beschreiben darin in Stichworten die Entwicklung des Kindes, das dazu Fragen beantwortet, selber Bilder malt oder erste Wörter schreibt. Im Mittelpunkt der Beobachtung und Dokumentation stehen dabei die sprachlichen Fähigkeiten.

Dass es um diese bei einem erheblichen Teil des Berliner Nachwuchses nicht allzu gut bestellt ist, zeigen bundesweite Vergleichsstudien, bei denen sowohl Kitakinder wie auch Viertklässler der Stadt weiterhin oft mangelhafte Sprachkenntnisse aufweisen. Und das, obwohl kein Bundesland so viel Geld wie Berlin für die Förderung der Kleinsten ausgibt. Laut Anette Stein, Bildungsexpertin der Bertelsmann-Stiftung, ist eine ganze Reihe von Faktoren für das schlechte Abschneiden verantwortlich: „Es gibt überdurchschnittlich viele bildungsarme Familien. Dazu kommt, dass die Segregation in den Stadtvierteln Berlins besonders ausgeprägt ist.“ Auch dass ein relativ großer Teil der Kinder mit Migrationshintergrund gar nicht in eine Kita gehe, befördere schon früh die Trennung nach Milieus. Wichtig sei es, so Stein, bei allen Versuchen, die Situation zu verbessern, vor allem „die Eltern einzubeziehen“. Laut Studien ist ihr Einfluss auf die Bildungsentwicklung der Kinder etwa dreimal so stark ist wie der der Kita.

Die Sprachlerntagebücher, die den Eltern regelmäßig vorgelegt werden, sind ein in diese Richtung gehender Ansatz. Gerade beim Wechsel von der Kita in die Grundschule sollen sie den Beteiligten Hilfe bieten.

Ein Grunddilemma gibt es aber: „Bei unserem Personalschlüssel ist der Aufwand, sich um die Sprachlerntagebücher zu kümmern, einfach zu groß“, sagt die Erzieherin Susanne Becker [Name geändert; d. Red.]. „Im Kita-Alltag ist das kaum umsetzbar.“ Gleichzeitig räumt Becker ein, „dass die Kinder es lieben, an den Büchern zu arbeiten“, auch wenn sie einige Fragen für nicht altersgerecht hält („Wie könnte es sein, wenn ich erwachsen bin?“). Becker nutzt den grünen Ordner nach eigenen Aussagen mehr als „Tagebuch der Kita-Zeit“ denn als genuines Mittel der Sprachförderung.

Um ein weiteres Problem beim Einsatz der Sprachlerntagebücher ging es bereits im Vorjahr, als Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) erste Zwischenergebnisse der Qualitätsüberprüfung der Berliner Kinderbetreuung vorstellte. Denn aufgrund von Bedenken des Datenschutzbeauftragten dürfen diese nicht automatisch von der Kita an die Grundschule weitergegeben werden. All die gesammelten Informationen, zum Beispiel welche Bücher zu Hause gelesen werden, seien „sensible Daten“, so der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix; ihre Weiterreichung setze deshalb die Zustimmung der Erziehungsberechtigten voraus.

Die Jugendsenatorin sieht das anders – vor allem auch, weil dadurch die Arbeit der Grundschulen mit den Erstklässlern erschwert wird. Sie müssen erst mal mühsam herausfinden, wo die Kinder stehen und ob sie Förderbedarf haben. Ende September 2012 hatte Scheeres deshalb einen „Vorstoß“ beim Datenschutzbeauftragten angekündigt, um die geltende Regelung zu ändern, doch geschehen ist in der Sache seither nicht viel. Nun, heißt es, sei für April ein Gespräch zwischen Scheeres und dem Datenschutzbeauftragten Dix geplant.

Ob sich Dix zum Einlenken bewegen lässt, ist angesichts prinzipieller Bedenken aber fraglich. So könnte es bei dem bisherigen Prozedere bleiben: Die Eltern bekommen das Sprachlerntagebuch am Ende der Kita-Zeit mit dem Hinweis ausgehändigt, dass es „wünschenswert“ wäre, wenn sie es an die Grundschule ihres Kindes weitergeben würden. Laut Ilja Koschembar, Pressesprecher beim Jugendsenat, sind es in erster Linie diejenigen Grundschulen, die „in engerer Kooperation mit Kitas den Übergang gestalten“, die dann auch „explizit bei Einschulung die Eltern nach dem Sprachlerntagebuch ihres Kindes“ fragen.

Abgesehen von der Frage, ob Grundschulen die Sprachlerntagebücher ohne elterliche Zustimmung erhalten sollten oder nicht, sehen viele Experten in ihnen ein prinzipiell geeignetes Mittel der individuellen Förderung. Solvejg Kulick, Kita-Fachberaterin vom Dachverband Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS), hält sie etwa im Vergleich zu umfangreichen Sprachtests, wie sie in Brandenburg durchgeführt werden, für das zwanglosere „Handwerkszeug“. Allerdings wünscht sich Kulick, dass Lehrer sich auch mit dem einleitenden „Das bin ich“-Teil des Sprachlerntagebuchs auseinandersetzen, in dem sich das Kind sich und sein Leben selber vorstellt, statt nur die zwei „Bildungsinterviews“ und die abschließende „Lerndokumentation“ zur Sprachentwicklung durchzugehen und die Kinder danach zu „bewerten“.

Doch den Lehrern fehlt zum ausführlichen Durcharbeiten oft eines: ausreichend Zeit.