Neues Rezept gegen Schuldenkrise: Rütteln an Europas Spardogma

EU-Kommissionschef Barroso sieht die Grenzen des Kürzungswahns erreicht. Die Kritik am einseitigen deutschen Kurs wächst.

Immer nur sparen hilft nicht – finden auch die zyprischen Protestler. Bild: reuters

BRÜSSEL taz | Bisher sind es nur Worte, noch keine Taten. Doch ein einziger Satz von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat genügt, um das deutsche Dogma der Sparpolitik in Europa zu erschüttern.

Was war passiert? Bei einer Konferenz europäischer Denkfabriken am Montag in Brüssel hatte Barroso gesagt, die Austeritätspolitik habe „ihre Grenzen“ erreicht. Sparen sei zwar „grundsätzlich richtig“, doch dazu brauche man auch „ein Minimum an politischer und gesellschaftlicher Unterstützung“.

Eigentlich eine Binsenweisheit. Nicht nur in Barrosos Heimat Portugal, in Griechenland, Spanien und Zypern findet der Sparkurs keinen Rückhalt mehr. In Italien hat die Mehrheit der Wähler gegen den Kandidaten der EU-Kommission, Noch-Premier Mario Monti, gestimmt.

Doch bisher hat die EU-Kommission den Sparkurs, der im wesentlichen im Berliner Bundeskanzleramt formuliert wurde, loyal mitgetragen. Deshalb ist es eine kleine Sensation, wenn sich nun ihr Präsident vom offiziellen Kurs distanziert. Und ein Zeichen für eine Wende?

Tatsächlich ist Barroso nicht der Erste. Der Chef des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), geißelt die Spardiktate schon lange und verlangt mehr Geld für Wachstum – das die EU-Chefs zwar im Prinzip bewilligt, aber immer noch nicht freigegeben haben. Der Chef der Sozialdemokraten in der Volksvertretung, Hannes Swoboda, setzt sich sogar für die Auflösung der in vielen Krisenländern verhassten Troika ein. Das „koloniale Gehabe“ der EU müsse ein Ende haben, sagte er nach dem Gerangel um die Zypern-Rettung.

Swoboda sagte auch, wem er das unterstellte: Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Auch der Chef der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, rückt vom Spardogma ab – wenn auch bisher nur klammheimlich. Dijsselbloem hat den Niederlanden eine Sparpause verschrieben statt zu versuchen, das Budgetdefizit von derzeit 4,4 Prozent unter die EU-Grenze von 3 Prozent zu drücken.

Eurogruppenchef distanziert sich von Berlin

Dijsselbloem, der von der Bundesregierung für den Brüsseler Chefposten ausgesucht worden war, distanziert sich damit von der deutschen Sparpolitik. Damit hat er einen Präzedenzfall geschaffen. Fortan kann der Chef der Eurogruppe nicht mehr begründen, warum andere Spardiktate schlucken sollen, die er selbst nicht einhält.

Für eine Wende sprechen sich auch viele Experten außerhalb Europas aus. Schon im Herbst hatte der Internationale Währungsfonds (IWF) Zweifel am EU-Kurs geäußert: Die Kürzungen schlügen viel stärker auf die Realwirtschaft durch als bisher gedacht, hieß es in Washington. Sie würgten die Konjunktur ab und rissen immer neue Löcher in die Haushalte.

Nun kommen auch noch wissenschaftliche Zweifel am Sinn von Defizit-Obergrenzen hinzu. Bisher galt als erwiesen, dass ab einer Schuldenquote von 90 Prozent das Wachstum leidet. Währungskommissar Olli Rehn hatte dies immer wieder als Begründung für seine Sparauflagen genannt. Doch nun kam heraus, dass sich die Harvard-Forscher Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart wohl getäuscht haben, von denen das Modell stammt. Ihre 90 Prozent beruhen offenbar auf einem simplen Rechenfehler.

Nur in der Bundesregierung will man dies noch nicht wahrhaben. „Das Ende der Sparpolitik zu verkünden, ist Unsinn“, sagte Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs. Doch spätestens nach der Bundestagswahl muss auch Berlin den Tatsachen ins Auge schauen, heißt es in Brüssel. Barrosos häretische Äußerung war wohl nur der letzte Warnschuss.

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