Feindbild Islam

Die plakative Debatte über die Unterdrückung muslimischer Frauen kommt weitgehend ohne Fakten aus – und sie erschwert die Integration in die Mehrheitsgesellschaft

Deutsche Geschichte kennen Migrantenkinder meist besser, als es ihren deutschen Mitschülern recht ist

Ein Tabu muss gebrochen werden, heißt es immer. Doch jetzt werde endlich über die Frauenunterdrückung im Islam geschrieben, sagt Alice Schwarzer in der FAZ. Dabei boomt schon seit Jahren die so genannte Schleierliteratur, wie sie im islamwissenschaftlichen Fachjargon genannt wird. Deutsche Buchläden sind voll von Büchern über entrechtete Frauen, die vor ihren Männern oder Vätern fliehen mussten.

Den Anfang machte in den Achtzigerjahren Betty Mahmoodys Buch „Nicht ohne meine Tochter“. Auch Necla Keleks Buch „Die fremde Braut“ funktioniert nach dem Mechanismus der Schleierliteratur. Übertragen auf den Rechtsradikalismus in Deutschland hieße das: Ein ausländischer Journalist untersucht das Phänomen und besucht dazu einige ausländerfreie Dörfer in Ostdeutschland. Und schreibt: Das und nur das ist Deutschland.

Es gibt über 3,2 Millionen Muslime in Deutschland. Unter ihnen sind viele, die sich nicht integrieren wollen oder archaische Vorstellungen von der Rolle der Frau haben. Es gibt Zwangsehen und Männer, die ihre Frauen schlagen, Brüder, die ihre Schwestern töten. Deshalb brauchen wir eine Auseinandersetzung mit dem bedrohlichen Phänomen, das Frauen wie Necla Kelek benennen. Doch dazu brauchte man Zahlen. Kelek nennt keine. Ihrem Buch „Die fremde Braut“ liegt keine Datenerhebung zugrunde, die Nachweise sind nicht belegbar. Das Buch ist somit vollkommen unwissenschaftlich, suggeriert aber, die Zahl der Zwangsheiraten würde in die tausende gehen. Zudem wolle ein Großteil der Muslime sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft abschotten, um unter allen Umständen an ihrer muslimischen, mit der deutschen angeblich nicht zu vereinbarenden Identität und Kultur festzuhalten.

Wissenschaftliche Untersuchungen hingegen bestreiten dies. Laut Heiner Bielefeldt, dem Direktor des deutschen Instituts für Menschenrechte, sind die Muslime im deutschen säkularen Rechtsstaat schon seit einiger Zeit angekommen. In seiner Publikation „Muslime im säkularen Rechtsstaat“ heißt es: „Eine aktive Abwehrhaltung gegenüber dem säkularen Staat ist in Deutschland jedoch offenbar Sache einer radikalen Minderheit unter den Muslimen.“ Die Mehrheit scheine sich mit den bestehenden Verhältnissen mehr oder weniger arrangiert zu haben.

Vermutlich würde jede empirische Untersuchung ergeben, dass gerade die muslimischen Frauen nicht das sind, was aus ihnen gemacht wird. Doch dazu müsste man mit ihnen sprechen, statt nur über sie. Ein Beispiel: Auch wenn sie hier „angekommen“ sind, halten viele Frauen am Kopftuch fest. Warum das so ist, hat Nilüfer Göle, eine Türkin, die in Paris Soziologie unterrichtet, untersucht. Ihre Untersuchungen belegen, dass für viele junge Musliminnen das Kopftuch gerade nicht Zeichen einer islamistischen Gesinnung ist, sondern „statt eines Stigmas für Muslime zum positiven Bekenntnis zu ihrer islamischen Identität geworden ist“. Das Schandmal, das sagt „Muslim is ugly“ wird umgekehrt in „Muslim is beautiful.“ Das Kopftuch ist meist Ausdruck von Religiosität oder der Zugehörigkeit zu einer Gruppe – und nicht zwingend von Fundamentalismus.

Zu ähnlichen Ergebnissen wie Nilüfer Göle kam auch Necla Kelek einst. In ihrer 2002 erschienenen Dissertation schreibt sie: „Die Jugendlichen […] partizipieren größtenteils selbstverständlich an den vielen Möglichkeiten, die die Moderne bietet. […] Ihre Lebensbedürfnisse sind, wenn auch in unterschiedlicher Spannweite auf Deutschland, auf die Moderne bezogen. […] Was ihre familiären Vorstellungen angeht, orientieren sie sich mehr oder minder an Modellen der modernen Kleinfamilie mit überwiegend emanzipativem Verhältnis zwischen Mann und Frau und liberaler Kindererziehung. Zusammenfassend ist perspektivisch eine weitgehende Anpassung an die Lebensweisen der westlichen Moderne festzustellen.“

Heute stellt sie die Situation von Türken in Deutschland vollkommen anders dar und trägt im Gestus der Märtyrerin – gekoppelt mit dem Topos der Gefährdung – eine vermeintlich neue Erkenntnis vor (dass Muslime in der Welt und zum Teil auch hier Auffassungen anhängen, die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht zu vereinbaren sind), obschon sie eigentlich nur das allgemeine Ressentiment ausspricht. Die reaktionärsten Positionen treten so auf im Gewande des Progressiven. Denn auch sie führt heute alle Probleme, die Frauen haben, auf eine „islamische Leitkultur“ zurück: „Dieses Kulturmuster prägt das Handeln der muslimischen Migranten in Deutschland bis in den letzten Winkel ihres Alltags, ihr Leben, ihr Verhalten, die Erziehung ihrer Kinder“, schreibt sie heute. „Und diese Werte haben mit den Werten und Normen der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht viel gemein. Wer glaubt, dass sich diese Haltung im Laufe der Generationen gleichsam ‚auswächst‘, der irrt.“ Das islamische Recht zementiert die Geschlechterdiskriminierung.

Vielen Muslimen gilt der Islam als offen – Fundamentalisten und einigen westlichen Experten nicht

Aber wenn sie nur im Islam begründet läge, wäre die Möglichkeit einer Veränderung ausgeschlossen. Dann ist die Alternative nur: entweder Islam oder Frauenrechte. Doch viele Muslime verweigern sich dieser ultimativen Aufforderung, sie betrachten den Islam als offenes Gebilde. Sie sehen ihn als veränderlich an – im Unterschied zu den Fundamentalisten und einigen westlichen Experten. Das macht die Art und Weise, wie Necla Kelek die Diskussion führt, so gefährlich. Sie stellt die muslimischen Migrantinnen vor die Alternative, sich von der Kultur ihres Elternhauses zu lösen oder stigmatisiert zu werden.

Zudem sind bestimmte Positionen, die sie vertritt, nicht haltbar: So sieht sie keinen Unterschied zwischen einer arrangierten Ehe und einer Zwangsheirat. Natürlich ist es schwierig zu entscheiden, wo der soziale Druck das Mädchen „überzeugt“ oder wo es ihr normal erscheint, sich dem Willen der Eltern zu beugen. Dennoch kann eine arrangierte Ehe nicht pauschal als Zwangsheirat bezeichnet werden. Es ist in vielen Kulturen normal, dass junge Menschen einander von den Eltern vorgestellt werden und diese versuchen, eine Ehe zu stiften.

Und die so genannten Ehrenmorde sind kein allgemein muslimisches oder auch nur türkisches Phänomen, sondern kommen vor allem unter Kurden, aber auch in Sizilien vor. In bestimmten Milieus herrscht ein gravierendes Ausmaß an häuslicher Gewalt – in russlanddeutschen beispielsweise weit stärker als in türkischen. Das Phänomen liegt vor allem in einer ländlichen Kultur begründet. Wäre es nur der Islam, der die Männer zu Tyrannen macht, müssten Gewalt in der Ehe, Ehrenmorde und Zwangsheiraten in allen muslimischen Migrantenmilieus hoch sein. Tatsächlich aber sind es bestimmte soziale Schichten – in denen Muslime aufgrund der Anwerbungspolitik der 60er-Jahre, die sich gezielt an eine ländliche türkische Bevölkerung richtete, überrepräsentiert sind –, in denen diese Gewalttaten geschehen.

Die gegenwärtige Debatte, so notwendig sie prinzipiell ist und so wichtig es ist, gegen Zwangsehe, häusliche Gewalt oder mangelnde Bildung in Migrantenfamilien vorzugehen, könnte die Integration von Muslimen in Deutschland eher verhindern: Viele sehen die Debatte als ein Beispiel für den Islamhass im Westen, ziehen eine Linie von ihr zur Rhetorik des italienischen Regierungschefs Silvio Berlusconi vom Kreuzzug des Islams und Huntingtons Thesen vom „Kampf der Kulturen“.

Viele Migrantenkinder der zweiten und dritten Generationen reagieren trotzig auf den aufklärerischen, selbstherrlichen Impuls, mit dem die Debatte geführt wird. Ihnen wird unterstellt, alles an ihnen und ihrer Religion sei rückschrittlich und sie sollten jetzt doch die Entwicklung nehmen, die der Westen ihnen vorgemacht hat. Da verweisen sie instinktiv darauf, dass keineswegs alles im Westen vorbildlich ist und ein Land, das sechs Millionen Juden umgebracht hat, nicht zum Oberlehrer in Sachen Toleranz taugt. Die deutsche Geschichte kennen Migrantenkinder nämlich in der Regel besser, als es ihren deutschen Mitschülern oft recht ist. Nur sind ihre Schlüsse andere.

Wir brauchen eine Auseinandersetzung über Zwangsehen. Doch dazu brauchte man Zahlen

So richtig es ist, bestimmte Gesetze des Islams oder Manifestationen seiner Kultur als rückschrittlich zu brandmarken: Wer Muslimen beständig das Gefühl gibt, sie müssten sich ihrer Religion schämen, wird ihr Bedürfnis nach kultureller Selbstbehauptung verstärken.

KATAJUN AMIRPUR