Stuttgarter Kolumnist Joe Bauer: Biedere Arschlöcher gibt es überall

Ist Stuttgart die langweiligste Großstadt Deutschlands oder der Ort, an dem Politisches neu definiert wird? Wer sollte es wissen, wenn nicht Joe Bauer.

Stuttgart war sein Image früher scheißegal war. Man hatte Bosch, Daimler, Porsche. Was brauchte man Image? Eine Parallelwelt gab es immer. Bild: Martin Storz / Graffiti

Ein Mann muss nicht nach Las Vegas, um sein Leben zu verspielen. Das ist ein echter Joe-Bauer-Satz. So lange dran rumgefeilt, bis es so lakonisch klingt, als sei es einfach so dahergesagt. Damit sind wir schon mal in der Grundstimmung einer Joe-Bauer-Lesung. Nun zum Mann: Er trägt Schwarz. Die Haare präfrisiert, dazu Cowboystiefel, eine Halskette und eine getönte Brille. Er lässt seine Stimme knarzen, als habe er Jahrzehnte mit Whisky dafür gearbeitet.

Aber er raucht nicht mal, ist kein Gonzo-Journalist wie Hunter S. Thompson oder Jörg Fauser, schon gar kein Popliterat. Er ist nicht im Zentrum des Geschehens, er ist ein melancholischer Beobachter; nicht drin in der Gesellschaft, aber auch nicht ganz draußen; und eher emphatisch als sarkastisch. Er ist Kolumnist, laut Eigendefinition „ein gelernter schwäbischer Kleingeist“ – und damit eben gleichzeitig keiner. Im Grunde ist er der Poeta laureatus Stuttgarts.

Mit so einem Geschwurbel sollte man ihm indes nicht kommen, sonst gibt es einen Satz heiße Ohren. Aber wenn man wissen will, wie die Stadt in dieser Sekunde tickt, muss man seine Kolumne lesen. Und wenn man die Internationalität der Stadt spüren will, geht man in seinen „Flaneursalon“, eine Art Revue aus Komik, Literatur und Rock ’n’ Roll, bei der er regelmäßig andere Künstler um sich versammelt.

Sein Verleger pflegt zu sagen, Bauer sei „in Stuttgart weltberühmt“. So weltberühmt, dass er sogar seinen eigenen Taxifahrer hat, den er zu jeder Tag- und Nachtzeit anrufen kann. Zur Premierenlesung seines neuen Geschichtenbands „Im Kessel brummt der Bürger King“ kamen 450 Leute ins Theaterhaus.

Die U-Bahn und Robert Johnson

Als er in Berlin im „Monarch“ liest, ist es nicht annähernd so voll, aber hier ist er ja auch noch nicht weltberühmt. Hinter dem Fenster fährt grade eine orangene U-Bahn ins Kottbusser Tor ein, da liest er den Satz: „Der Bahnhof ist wie ein Lied von Robert Johnson.“ Dann erzählt er, dass sein Vater Bahnhofsvorsteher war und er deshalb in einem Bahnhof mit Plumpsklo geboren wurde.

In Mögglingen war das, „sechzig Kilometer von einem anderen Bahnhof entfernt“. Und damit sind wir beim Stuttgarter Hauptbahnhof und der Bürgerbewegung gegen „S 21“, mit der das Aufbegehren von Menschen mittleren Alters in ordentlich geregelten Einkommensverhältnissen begann. Eines Tages fand sich auch Bauer bei einer Montagsdemo als Sprecher gegen den geplanten Tiefbahnhof wieder. Warum engagiert sich ein Beobachter?

„Ihnen waren die Redner ausgegangen“, sagt er bei einem Treffen in einem Berliner Café. Es soll möglichst lapidar klingen. Später fügt er hinzu, dass das doch „besser sei, als auf dem Sofa zu sitzen und Chipse zu fressen“. Noch später sagt er, es gebe Momente, wo man sich entscheiden müsse. Und eine Pflicht zu handeln, auch wenn es nicht angenehm sei.

Manche halten Joe Bauer für einen ganz Feinfühligen, andere für einen durch die Post-68er-Kultur weiterentwickelten schwäbischen Bruddler. Jedenfalls ist er festangestellter Redakteur bei den Stuttgarter Nachrichten – das ist ein beinhartes Pro-Stuttgart-21-Medium – und jeder Art von gesellschaftlichem Aufbruch oder Subversion überhaupt nicht verdächtig.

„Aber wir haben doch Joe Bauer“

Irgendwie entwickelte es sich, dass er heute arbeiten und schreiben kann, wie er es für richtig hält. Und obwohl die Zeitung das eher nicht strategisch geplant hat, strahlt seine Reputation nun auf sie ab. Wann immer es in öffentlichen Diskussionen für den StN-Vertreter kritisch wird, heißt es: „Aber wir haben doch Joe Bauer.“ Das hilft fast immer.

Aber jetzt springen wir noch mal ins Café zurück, wo er als führender Beobachter der schwäbischen Landeshauptstadt die alten und die neuen Klischees beurteilen soll. Ist Stuttgart in einer Transformation von der langweiligsten Großstadt Deutschlands voller sparbesessener Kehrwochenzausel zu einem Ort, an dem die bürgerliche Moderne neu definiert wird? Das ist ja die Frage, die sich nach der schwäbischen Revolution am Stuttgarter Bahnhof stellt.

Bauer reibt sich dabei mit dem Daumen über die Oberlippe. Macht er gern. Dann brummt er: „Biedere Arschlöcher gibt es überall.“ Da kann man als Kreuzberger unmöglich widersprechen. Dann sagt er, einer seiner überregionalen Lieblingseinstiegssätze in S-21-Berichten sei gewesen: „Ausgerechnet die biederen Schwaben …“ Da schwinge immer auch mit: „Die Deppen, die 3.500 Jahre das Maul nicht aufgekriegt haben.“ Wenn jemand dann noch „Ländle“ sagt, ist es vollends vorbei für ihn.

Opposition braucht Bürger

Dann erzählt er die Erfolgsvariante der Geschichte, das ist die einer Bürgerschaft, die sich im Streit über den Bahnhof politische Möglichkeiten zurückerobert hat. Und die eines urbanen Großraums, in dem schon vorher 2,5 Millionen Menschen relativ wohlhabend und ordentlich zusammenlebten, weit über ein Drittel davon mit sogenanntem Migrationshintergrund.

Will sagen: Den Schwaben, der aus genetisch-historischen Gründen auf Kehrwoche, Maultaschen, Sparen und Trinken von schlechtem Trollinger fixiert ist, gibt es nicht. Außer in folkloristisch-populären Verkürzungen wie Felix Hungerbühlers „Tatort“-Figur „Bienzle“. Im Übrigen: Die Redewendung „Ja, du liabs Herrgöttle von Biberach“ gebrauche seit Jahrzehnten keiner mehr.

Bauers These ist, dass Stuttgart sein Image früher scheißegal war. Man hatte Bosch, Daimler, Porsche. Der Laden lief. Was brauchte man Image? Eine Parallelwelt gab es immer. Eine Gegenkultur zur Kehrwoche auch. Und zur Opposition gehörten schon immer Bürger, gerade auch hochgebildete. Er würde jetzt nicht wie der neue Oberbürgermeister Fritz Kuhn sagen, dass die Stuttgarter „Weltbürger im kantischen Sinne“ seien. Aber „der liberale Geist des Widerstands war immer da“. Und zu denen, die das rebellische Potenzial der Stadt repräsentierten, gehörte Joe Bauer.

Und nun, wo der grüne Ministerpräsident Kretschmann das Land regiert und der Grüne Kuhn am 7. Januar die Stadt übernimmt, und wo die früheren Unterdrückten überhaupt ziemlich hegemonial werden, da wird auch Bauer ins Establishment gedrückt?

„Provinzialität hat die CDU nicht exklusiv“

Versteht er nicht, die Frage. „Wo bin ich denn, um Gottes Willen, Establishment?“ Tja. Gegen wen kann er denn noch rebellieren in Stuttgart? „Provinzialität hat die CDU nicht exklusiv“, knarzt er. Und falls man es nicht verstanden hat: „Ich mach da keinen Unterschied zwischen CDU und Grünen.“

Einmal luden die Grünen ihn als Festredner ein. „Die laden mich nicht mehr ein“, sagt er und klingt zufrieden. Die Rede ist im neuen Buch. „Die Grünen ändern nichts“, sagt er bei seiner Lesung, „sie begleiten haarsträubende Veränderungen kritisch.“ Kritisch – mit gesprochenen Anführungszeichen. Ministerpräsident Kretschmann verändere die Welt nicht, er male sie grün an. Das bringt es für Kritiker von links auf den Punkt.

Sicher sei die Abwahl der CDU „historisch“ gewesen, „ich konnte mir das nie vorstellen.“ Aber das habe nichts mit Modernität zu tun, sondern sei hauptsächlich der Ausdruck dafür, dass die konservativen Werte nach den Erfahrungen des Mappus-Interregnums nun den Grünen zugeschrieben würden und das Rabaukenhafte der CDU.

Dass sich mit dem OB Kuhn Stuttgart großartig verändern wird, glaubt er nicht. Den Ton ja, die Atmosphäre vielleicht, aber nicht die Machtverhältnisse. Bei seiner Lesung greift er auf einen Satz von Jörg Fauser zurück: „Als alles vorbei war, ging alles weiter.“

Bewegung? Naja

Gibt es denn nun aus seiner Sicht Bewegung in Stuttgart? „Kommt immer drauf an, in welche Richtung“, brummt er. Unklar, ob das Ausweichrhetorik ist oder eine brillante Analyse.

Ganz am Ende steht Joe Bauer auf der Wiener Straße und fuchtelt nach einem Taxi, denn in Berlin hat er kein eigenes. Als eines angehalten hat, ruft er noch, man solle ihn bloß nicht als Überzeugungstäter oder so etwas hinstellen. Woher denn? Der Punkt ist ein anderer: Joe Bauer schreibt nicht bloß über Zuhälter; er kennt sie auch. Das ist jetzt nicht nur eine Metapher, das ist heutzutage eine Kostbarkeit.

Joe Bauer: „Im Kessel brummt der Bürger King“. Edition Tiamat, Berlin 2012, 192 Seiten, 14 Euro.
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