Montagsinterview: "Ich bin ein Schatzfinder"

Bereits in der DDR arbeitete Hans-Jürgen Heinicke als Antiquitätenhändler. Auch heute hat er viel mit Gegenständen von Menschen zu tun, die nicht mehr leben: Er räumt ihre Wohnungen aus.

"Lieber Gott, bitte lass eine Räumung kommen": Hans-Jürgen Heinicke Bild: Rolf Zoellner

taz: Herr Heinicke, Sie räumen die Wohnungen anderer Menschen aus. Woher haben Sie Ihre eigenen Möbel?

Hans-Jürgen Heinicke: Die sind alle aus meiner Tätigkeit zusammengetragen. Zum Glück muss ich mich nicht mehr in Kaufhäusern rumtreiben, wenn ich etwas brauche.

Sie kaufen nicht gern ein?

So ein Kaufhaus ist für mich wie Absurdistan. Ich habe meistens eine bestimmte Vorstellung von einem Gegenstand. Aber ich finde in den Geschäften niemanden, der mich gut berät. Ich hasse es auch, wenn irgendwo Logos aufgedruckt sind. Ich will so nicht rumlaufen. Ist wahrscheinlich die Ansicht von einem alten Sack.

In Ihrer Wohnung stehen viele antike Teile. Belastet Sie der Besitz manchmal?

Bei mir ist das so: Alles, was Sie hier in meiner Wohnung sehen, ist mehr oder weniger Ware. Die Bücher stehen fast alle online zum Verkauf, die werden immer wieder ausgewechselt, genauso wie die Lampen. Wenn ich keinen geschäftlichen Blick auf das Zeug hätte, wäre es eine Belastung. Es gibt wenige Sachen hier, an denen ich hänge. Ich bewundere ja solche japanischen Wohnungen, in denen so gut wie nichts drin ist.

Waren Sie in Berlin schon mal in so einer?

Leider nicht. Ulkigerweise habe ich keine nichtdeutsche Kundschaft. Ich habe zum Beispiel noch nie eine türkische oder russische oder arabische Wohnung aufgelöst. Warum, weiß ich auch nicht. Möglicherweise regeln sie das anders und teilen die Möbel innerhalb der Familie auf. Oder die Kinder kümmern sich um die Auflösung der Wohnung. Es heißt ja, dass sich jeder Mensch mit 10.000 Gegenständen umgibt. Ich bin sicher, es sind mehr. Was brauchen wir davon?

Der Mensch: Heinicke wird 1951 in Görlitz geboren. Nach der Schule macht er dort eine Lehre als Betriebsschlosser im VEB Braunkohlekombinat Lauchhammer. Anschließend leistet er 18 Monate Wehrdienst. In der Abendschule holt er sein Abitur nach.

Der Werdegang: Heinicke arbeitet unter anderem als Ausgrabungstechniker beim Brandenburgischen Museum für Ur- und Frühgeschichte und als Filmausstatter bei der Defa in Babelsberg. Er beginnt, alte Möbel und Antiquitäten zu sammeln. 1979 wird er im Rahmen einer landesweiten Aktion gegen Menschen verhaftet, die etwas mit Antiquitäten zu tun hatten. Nach Verbüßung einer zehnmonatigen Haft und jahrelanger Abzahlung der auferlegten Steuerschuld von 45.000 DDR-Mark darf er 1987 nach Westberlin ausreisen, wo er seither mit seiner Frau lebt.

Der Beruf: Seit über 30 Jahren macht Heinicke Nachlassverwertungen in Berlin und Brandenburg und befasst sich mit dem An- und Verkauf von Antiquitäten, Büchern und Trödel. Im Fischer Verlag sind gerade einige seiner Geschichten in Buchform erschienen: "Was vom Leben übrig bleibt, kann alles weg. Fundstücke eines Wohnungsauflösers", 255 Seiten, 8,99 Euro.

Ja – was brauchen wir überhaupt im Leben?

Essen, trinken, ein paar Freunde und ein bisschen Spaß. Viel ist das doch gar nicht. Vieles kauft man ja doch für andere Leute, um anzugeben oder sich darzustellen. Das langweilt mich, daran habe ich kein Interesse. Wozu brauche ich in Berlin zum Beispiel ein Auto? Ob Porsche oder Schrottkarre, man steht damit doch sowieso nur im Stadtverkehr.

Dass manche Menschen gern und viel konsumieren, ist das Fundament Ihres Jobs. Wenn sich die Leute ihre Wohnungen nicht mit Sachen zustellen würden, hätten Sie ja gar nichts zu räumen.

Dann würde ich etwas anderes machen. Sehen Sie, ich bin Optimist. Der Mist, den ich in den meisten Wohnungen finde, der Konsumwahn interessiert mich nicht. Mich interessieren nur die besonderen Sachen, die es nicht im Kaufhaus gibt. Der Rest wird verschenkt, das kriegt alles mein polnischer Kollege Alex. Alex kann alles weiter verkaufen, ob Waschmaschinen, Schrankwände, Couchgarnituren oder Kleidung. Offensichtlich ist der Markt in Osteuropa anders, die Leute sind noch nicht so verwöhnt. Alex befreit mich davon, Sachen zur Müllkippe fahren zu müssen. Und die Sachen bekommen dadurch ein zweites Leben. Das ist schon ein ganz schön gutes Gefühl.

Was sind denn die besonderen Sachen, für die Sie sich interessieren?

Es geht um die Dinge, die eine Seele haben. Das sind für mich schöne Handwerksarbeiten, bei denen sich jemand richtig Mühe gegeben hat. Das respektiere ich und lege mir die Stücke beiseite. Wenn man so etwas in der Hand hält, ist man wie elektrisiert. Das Kriterium ist: Habe ich das in letzter Zeit schon mal irgendwo gesehen? Habe ich das überhaupt schon mal in der Hand gehabt?

Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe neulich in einer Küche in die Küchenschublade gefasst und fand einen Korkenzieher. Der war nicht schön und aus den 1920er Jahren. Ich hatte den aber noch nie gesehen. Später habe ich ihn bei Ebay versteigert, und er hat 1.600 Euro gebracht. Das war ein Sammlerstück.

Außer Küchenschubladen – an welchen Orten kann man noch tolle Sachen finden?

Na, in Nähkästchen! Die Nähkästchen der Frauen sind magische Orte. Lebt Ihre Oma noch?

Nein.

Schade. Das ist ein schönes Versteck von Frauen, da gehen die Männer ja nicht ran. Man kann diese Fächer aufklappen, und unten gibt es meistens noch Liebesbriefe aus der Jugend, Fotos von alten Freunden, beiseitegelegtes Wirtschaftsgeld oder ein paar kleine Schmuckstücke. Manchmal sind auch in den Dosen, in denen die kleinen Nadeln drin sind, interessante Sachen.

Aber mit Liebesbriefen können Sie ja nicht wirklich Geld verdienen.

Nein, aber sie versüßen den Job. Man darf ja nicht vergessen: So eine Räumung ist eine ganz schöne Knüppelei und nicht so romantisch, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Aber die Bewegung hält mich fit, ohne wäre ich ein fetter, alter Sack. Manchmal sitze ich hier ein paar Tage vor dem Rechner und mache Buchhaltung. Dann denke ich: Lieber Gott, lass bitte eine Räumung kommen!

Wie gehen Sie vor, wenn Sie den Auftrag für eine Wohnungsräumung erhalten?

Wenn jemand stirbt, gibt es meistens noch den Mietvertrag, der drei Monate weiterläuft. Am Anfang sehen die Erben die Sachen durch und legen die Dinge hierhin und dorthin, weil sie denken, dass sie sie noch brauchen könnten. Der Kram wird zehnmal hin und her geschoben, nichts geht vorwärts, es verschwinden nur Kleinigkeiten aus der Wohnung. Und am Ende sorgen wir für die Erlösung. Das klingt hart, ist aber oft so. Wenn die Wohnung dann leer ist und wir die Schlüssel abgeben, sind viele froh, dass abgeschlossen ist.

Sehen Sie sich selbst als Schatzsucher?

Ich bin eher ein Schatzfinder. Der Schatzsucher, der weiß schon, wonach er sucht. Ich suche nicht direkt, ich finde. Mit einer guten Spürnase und einem guten Auge finde ich selbst im größten Dreckhaufen noch etwas. Die Geschichten hinter den Dingen sind besonders interessant, weil sie die Menschen so gut beschreiben – besser, als sie das selbst könnten. Wenn ich die Post sehe oder die persönlichen Aufzeichnungen der Leute, dann mache ich mir ein Bild von ihnen.

Haben Sie durch Ihren Job gelernt, wie die Berliner ticken?

Ich sehe zum Beispiel sofort, wo Flüchtlinge gelebt haben. Also solche, die 1945 aus Schlesien oder von irgendwoher gekommen sind. Sie können nichts wegwerfen, weil sie so eine Not durchlebt haben. Ich habe in Schöneberg die Wohnung eines Paares ausgeräumt, das im Keller Unmengen von Konserven gebunkert hatte. Dort standen auch Betten, falls doch wieder ein Bombenangriff kommt oder die Russen. Außerdem hatte das Paar zwei Rucksäcke gepackt, einen für sie, einen für ihn. Mit ein bisschen was zu essen für unterwegs und warmen Sachen, falls es wieder losgeht.

Hat Sie das berührt?

Das hat sich bei mir eingebrannt. Wir bilden uns ja ein, dass wir das alles verstehen können. Aber wir haben so etwas nicht durchgemacht. Wir wissen gar nicht, was die gefühlt haben. Ich kann mir am Ende kein Urteil erlauben.

Sie dringen durch Ihre Arbeit in das Leben anderer ein. Erfahren sie dabei auch Dinge, die sie lieber nicht erfahren hätten?

Selten. Es gab einen jungen Mann, der hatte sich das Leben genommen. Die Schwester hatte mich mit der Auflösung beauftragt. Da habe ich danach in der Wohnung gesessen und den Anrufbeantworter abgehört, auf den die Schwester gesprochen hatte. Was ist denn mit dir los? Wir haben gehört, es gab mit deinem Auto einen Unfall? Der saß aber in diesem Auto, fuhr gegen einen Brückenpfeiler und nahm sich das Leben. Das geht einem natürlich unter die Haut. Und der Bursche war mit 41 ziemlich jung.

Was bleibt von einem Menschen übrig am Ende des Lebens?

Einige Geschichten brennen sich ein, die besonderen Geschichten. Da war dieser Steuerberater, der sich ein 400 Quadratmeter großes Apartment auf ein gewöhnliches Mietshaus in Moabit draufgesetzt hat. Der Ausblick über Berlin von seiner Wohnung: unglaublich! In Moabit war er damit der König. Wäre er nach Zehlendorf oder Grunewald gegangen, wäre er der Arsch unter Arschlöchern gewesen sozusagen. In Moabit war er etwas Besonderes. Die Räumung hat Spaß gemacht, was am Inhalt der Wohnung lag: kistenweise Champagner, gute Weine und zwei Monate Zeit, um das Ganze aufzulösen und zu verkaufen. Es war ein schöner September, die Sonne schien. Abends saß ich dann auf dieser herrlichen Terrasse und guckte über Berlin. Ich hatte noch meine Frau mitgenommen, und wir haben ein bisschen Champagner getrunken. Das war irgendwie schräg und lustig.

Spielen Sie da nicht das Leben von jemand anderem nach?

Doch. Weil wir Zeit hatten, konnte ich mich intensiver mit ihm beschäftigen. Ich habe den ja auf Fotos gesehen. Und er hat sich nachts tatsächlich in meine Träume geschlichen. Wir haben zusammen auf der Terrasse gesessen. Nur worüber wir uns unterhalten haben, das kriege ich nicht mehr so zusammen.

Beneiden Sie Menschen wie diesen Steuerberater?

Nein. Ich will kein anderes Leben führen und bin nicht wirklich neidisch. Ich bin ja trotzdem der Sieger, weil ich noch lebe – und die nicht. Viele denken ja, dass mein Job aufs Gemüt schlägt und ich oft traurig bin. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann das Leben genießen. Vielleicht besser als Leute, die nach irgendwelchen Sachen streben, die ich völlig blödsinnig finde.

Sie waren eine Zeit lang Bühnenbildner, hatten also immer mit Kulissen zu tun. Irgendwann wurden Sie Antiquitätenhändler. Was trieb Sie an?

Mit Anfang 20 hatte ich meine erste Wohnung in Potsdam und kein Geld, um mir neue Möbel zu kaufen. Also musste ich mich damit begnügen, alte Sachen zu nehmen. Die hat man ja teilweise am Straßenrand gefunden. Meine Eltern wollte ich nicht anbetteln, weil die immer Forderungen hatten, wenn sie mir etwas geben sollten. Ich sollte mir zum Beispiel dafür meine langen Haare abschneiden. Und dann kam noch hinzu, dass mein Nachbar in Potsdam ein Sammler war. Der hatte fantastische Sachen. Er war sozusagen ein Vorbild für mich.

Im September 1979 sind Sie wegen Ihres Berufs verhaftet worden.

Verhaftet wurden damals außer mir Leute ähnlichen Schlags in der ganzen DDR. An diesem Tag wurde vom Erzgebirge bis zur Insel Rügen alles eingesammelt, was zu holen war. Da ging es um Antiquitäten. Die wurden beschlagnahmt, und es wurde eine Steuerschuld hochgerechnet.

Hatte das einen politischen Hintergrund?

Politische Ansichten spielten dabei überhaupt keine Rolle. Das waren pure Devisen. Die Sachen wurden beschlagnahmt und kamen nach Mühlenbeck, dort war ein großes Lager. Und dann wurden sie weiterkauft in die ganze Welt – von Westdeutschland bis in die USA. Ich kenne einen Arzt in Berlin, der hat sich deswegen das Leben genommen. Der hatte sein ganzes Leben gesammelt und war schon über 70 und hat sich das gegönnt. Der hatte nur einen Fehler gemacht: Er hatte Vorträge darüber gehalten. Das wurde ihm zum Verhängnis.

Sie selbst waren daraufhin zehn Monate im Stasi-Untersuchungsgefängnis.

Erst wegen sogenannten asozialen Verhaltens, zu dem das Sammeln alter Dinge ja gehörte. Und dann wegen Steuerhinterziehung. Ich sollte 18 Monate bekommen. Dann kam es allerdings zu einer Berufungsverhandlung. Und dabei haben sie dann gemerkt, dass es sich irgendwie beißt, wenn ich mich asozial verhalte und dafür auch noch Steuern zahlen soll.

Ihr heutiger Job wäre also in der DDR …

… völlig unmöglich gewesen. Also, ich habe zwar damals schon hin und wieder Wohnungen aufgelöst, aber nicht als offizielles Gewerbe. Das hängt ja schon mit dem Auto zusammen, das man für meinen Job braucht. Dann kam noch was dazu: Der Spitzensteuersatz damals lag etwa bei 90 Prozent des Einkommens. Und der wurde sehr schnell erreicht. Ich kenne kleine Handwerksbetriebe, die haben ein, zwei Monate nichts mehr gemacht, weil sie nicht in den Spitzensteuersatz reinkommen wollten. Deswegen musste das ganze System einfach auch zusammenkrachen.

Was soll mit Ihrem eigenen Nachlass passieren, wenn Sie mal nicht mehr da sind?

Man weiß nicht, wer übrig bleibt: meine Frau oder ich. Ich würde auf einen Freund setzen, der auch Wohnungsauflöser ist. Blöd nur, dass er so alt ist wie ich. Ich habe zwei Töchter, aber deren Interesse an schönen, alten Dingen ist relativ beschränkt. Die beiden finden, dass ich eine kleine Meise habe. Die können sich gar nicht erklären, was ich für ein Leben führe.

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