Gründerzeit der großen Konzerne

ZEITGESCHICHTE Demokrat, Globalisierer und Antisemit – die Biografie über Carl von Siemens zeigt das Wechselspiel von Fortschritt und Rückschritt am Beispiel eines Firmengründers im 19. Jahrhundert

Carl Siemens, damals 45 Jahre alt, war auf dem Schiff und leitete die Kabelverlegung

VON HANNES KOCH

Schon einmal wuchs die Welt mit ähnlichem Tempo zusammen wie in der heutigen Facebook-Zeit. Um 1860, als unsere Urgroßeltern auf die Welt kamen, brauchte ein Brief von Hamburg nach New York noch 12 Tage. Er wurde per Schiff transportiert. Schneller ging es nicht. Auch nicht für Superreiche.

Dann wollten ein paar Leute den Versuch unternehmen, Telegrafenkabel durch den Atlantischen Ozean zu legen. Mit dabei waren die Brüder Carl, Werner und Wilhelm Siemens. Dieses Vorhaben muss man sich unter anderem so vorstellen: Carl Siemens, damals 45 Jahre alt, war auf dem Schiff und leitete die Verlegung. Das Kabel gleitet ins Wasser und sinkt bis auf den Meeresgrund in 5.000 Meter Tiefe. Dann reißt es – die Kräfte des Schiffes, die Macht der Strömung und des Windes sind zu groß.

Globalisierungsschub

Die Mannschaft lässt einen Anker hinunter in die Tiefe und fährt mit dem Schiff langsam hin und her. Nach mehr als einem Tag schlägt das Messgerät aus – der Metallanker hat das Kabel auf dem Meeresgrund berührt. Man kann es wieder hochziehen und die Enden verbinden. Das Kabelschiff fährt weiter in Richtung USA. Als die Leitung ein Jahr später fertig ist, braucht eine Nachricht von Europa nach New York nur noch wenige Stunden – nicht mehr 12 Tage. Der damalige Globalisierungsschub bewirkt, dass die USA plötzlich nicht mehr am Ende der Welt liegen.

Der heutige Weltkonzern Siemens war damals ein Familienbetrieb mit ein paar hundert Beschäftigten. Die Brüder Wilhelm und Carl arbeiteten in London, der ältere Werner in Berlin. Außerdem hatte die Firma eine kleine Niederlassung in St. Petersburg, der Hauptstadt des russischen Zarenreiches. So steht es in der lesenswerten Biografie „Carl von Siemens“ des Berliner Wirtschaftshistorikers Martin Lutz. Anregend ist das Buch, weil es typische Elemente von Unternehmertum sichtbar macht, die im 19. Jahrhundert eine Rolle spielten – aber nicht nur damals.

Die Siemens-Brüder waren Handwerker, Techniker, Erfinder und Utopisten. Heute könnte man sagen sagen, sie gründeten ein Start-up. Ihre erste Werkstatt hatten sie in einem Hinterhof der Schöneberger Straße in Berlin-Kreuzberg, nicht weit entfernt vom Potsdamer Platz. Sie waren Anhänger der damals neuen Telegrafentechnik. Jahr um Jahr probierten und schraubten sie an ihren Geräten herum, bis diese etwas taugten. Mehr als einmal standen sie kurz vor der Pleite. Aber sie wollten nicht lebenslang Beamte irgendeines adeligen Potentaten sein, auch nicht Militärs oder Priester. Sie wollten sich stattdessen selbstständig machen und mit ihren eigenen Ideen Geld verdienen.

Eine Firma zu gründen bedeutete für die Siemens-Brüder persönliche Autonomie und materielle Selbstbestimmung. Das ist der Kern einer positiven Betrachtung von Wirtschaft, von Kapitalismus und von Bürgertum: eigener Wohlstand als Sicherheit vor Fremdherrschaft. Dieser wirkte im 19. Jahrhundert zudem als Ausgangs- und Kristallisationspunkt eines politischen Programms. Die Bürgerunternehmer wollten mitentscheiden und die 35 Monarchien abschaffen, aus denen Deutschland damals vornehmlich bestand – nicht zuletzt, weil deren Grenzen und Zölle den Warenaustausch erschwerten. Auch die Siemens-Brüder plädierten dafür, einen demokratischen deutschen Nationalstaat zu gründen. Im Zuge der Revolution von 1848 konstruierte Werner Siemens Seeminen, um die provisorische Regierung in Kiel gegen die Schiffe des dänischen Königs zu unterstützen, Carl half ihm dabei.

Außerdem waren die Brüder davon überzeugt, dass ihre neuen Produkte Fortschritt schufen. Damals bezweifelten das nicht wenige Menschen – mit einigem Recht. Wegen der Telegrafen-Kommunikation, die schnellere Preisvergleiche und Geschäfte zwischen Europa und Amerika ermöglichte, standen deutsche Bauern und Gutsbesitzer plötzlich in direkterer Konkurrenz zu den Getreideproduzenten der USA. Andererseits sahen und sehen viele Bürger in Telegramm, Telefon und E-Mail mehr Vorteile als Nachteile. Mit der Tochter in den USA oder dem Freund in Warschau zu skypen, gilt mittlerweile als Teil selbstverständlicher Lebensqualität.

Carl Siemens und seine Brüder machten einige entscheidende Schritte in diese Richtung. Sie trieben nicht nur die Telekommunikation voran, sondern auch die Nutzung der Elektrizität. Sie entwickelten große Dynamos, koppelten sie mit Dampfmaschinen zusammen und gehörten so zu den ersten Unternehmern, die ganze Stadtviertel mit elektrischem Licht erleuchteten. Erfolge verbuchten sie mit der Illuminierung der Prachtstraße Newski Prospekt und des Winterpalastes in St. Petersburg.

Letzteres zeigt jedoch ebenso, dass Carl Siemens (1829–1906) dem Geschäft zuliebe seine demokratischen Wurzeln sehr bald vertrocknen ließ. Er wurde Teil der feinen Petersburger Gesellschaft, verfügte über beste Beziehungen zur Elite und profitierte von Aufträgen, die Adelige am Hofe ihm zuschoben. Siemens baute Telegrafenleitungen, damit der Zar im Krieg gegen das Osmanische Reich mit seinen Truppen kommunizieren konnte. Später verlegte das Unternehmen das indoeuropäische Telegrafenkabel zwischen London und Kalkutta. Die Linie verlief durch Russland, das Schwarze Meer und Persien nach Indien. Im April 1870 wurde das erste Telegramm geschickt, das die 11.000 Kilometer von Großbritannien an den Golf von Bengalen in 28 Minuten schaffte. Briefe brauchten vorher 44 Tage. Für solche Schaffenskraft erhielt Carl Siemens schließlich von Zar Nikolaus II. den Adelstitel.

In dieser Gründerzeit der großen Konzerne hatten die Geschäfte mit fairem Wettbewerb oft nichts zu tun. Die Siemens-Brüder nahmen dankend an, wenn Regierungsbeamte halfen, Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. So gelang es ihnen, beim Zarenhof einen Importzoll für Kupfer durchzusetzen. Nur dadurch wurde die Kupfermine profitabel, die Siemens im Kaukasus betrieb. „Ohne den Zoll hätten wir letztes Jahr keinen Kopeken verdient“, schrieb Carl Siemens aus Russland an seinen Bruder Werner in Berlin. Aber nicht immer war das Wirtschaftsleben so bequem.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wuchs eine große Konkurrenzfirma in Deutschland heran. Emil Rathenau organisierte das Unternehmen AEG als Aktiengesellschaft, was ihm hinsichtlich der leichteren Kapitalversorgung Vorteile gegenüber dem Familienunternehmen Siemens verschaffte. Unter anderem diese Erfahrung bewirkte, dass sich die Brüder Carl und Werner dem Antisemitismus zuwandten. In Briefen bezeichneten sie Rathenau und seine AEG-Manager als „Geldjuden“. Carl Siemens schrieb, bald werde „aller Besitz in den Händen der Juden sein und die Germanen sind ihre Arbeiter“. Spätestens da hatte sich in der Biografie des Unternehmers Carl von Siemens die Waage von Fortschritt und Rückschritt auf dieser Seite gesenkt.

Martin Lutz: „Carl von Siemens. Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma“. Verlag C. H. Beck, München 2013, 415 Seiten, 29,95 Euro