Die Prekären sind die Punks von heute

PLÄDOYER Die akademische Disziplin Cultural Studies wurde oft totgesagt. Dabei hat sie sich gerade neu erfunden

Die Cultural Studies im Nachkriegsengland bezogen Stellung gegen die viktorianische Kulturkritik

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Keiner akademischen Disziplin wird hierzulande öfter ihr Ende prophezeit als den Cultural Studies. Dabei schwappten sie erst in den 90er-Jahren als Theorieimport in deutsche Hörsäle, vorangetrieben von jungen, popsozialisierten Wissenschaftlern, die damit ein persönliches Interesse theoretisch fundieren konnten. Und so bildete sich in Deutschland schnell eine Konnotation, die der Disziplin kaum gerecht wird: Cultural Studies – das ist dort, wo akademisch über Pop und Politik geredet wird.

Dass ihre Vertreter im Ursprungsland Großbritannien aus der Nische heraus operierten, war dabei sicherlich hilfreich – ein wenig Dissidenz sollte schließlich jeder Nachwuchsakademiker pflegen. Was nicht bedeutet, dass die Cultural Studies per se ein „polemisches“ Verhältnis zur Universität kultiviert hätten. Vielmehr ergab sich diese Distanz aus ihrer Entstehungsgeschichte. Die Pioniere der Cultural Studies wie Richard Hoggart und der aus Jamaika stammende Stuart Hall sprachen aus einer marginalen Arbeiter- oder Einwandererposition. Die Fragestellungen, die sie entwickelten, fanden gleichzeitig Eingang in die Debatten von Neuer Linken und Labour Party.

Cultural Studies zu betreiben, bedeutete Stellung zu beziehen. Zum einen gegen eine im Nachkriegsengland weiterhin verbreitete viktorianische Kulturkritik, die der Massen- und Arbeiterkultur ihre Legitimation absprach. Zum anderen gegen einen reduktionistischen Marxismus und die Frankfurter Schule, denen man einen geschärften Blick fürs Detail entgegenzusetzen hatte – immer im Bewusstsein, dass die britische Gesellschaft durch Rassismus, Geschlecht und Klassenzugehörigkeit gespalten war – und ist.

Wobei den Fragestellungen der Cultural Studies keine festen Grenzen gesetzt sind: Sie können eine ethnografische Untersuchung der lokalen Kneipenkultur ebenso umfassen wie eine von Deleuze inspirierte Neuformulierung des historischen Materialismus.

Angela McRobbie brachte den Feminismus ein

„Für mich ist die Wahl des Untersuchungsgegenstands entscheidend. Seine soziale Bedeutung muss beispielhaft sein“, meint Angela McRobbie. In den späten 1970ern brachte sie den Cultural Studies Feminismus bei, forschte etwa über Mädchenmagazine. Heute unterrichtet sie am Londoner Goldsmiths College angehende Textildesigner, was nur scheinbar ein Widerspruch ist. Ihr Interesse an weiblichen Lebenswelten ist unverändert, nur der Ort der Auseinandersetzung hat sich von der Repräsentation auf die Geschehnisse hinter den Kulissen verlagert.

„Traditionell beschäftigten sich Cultural Studies mit Fragen von Mediennutzung und Konsum. Seit zehn Jahren sind Fragen der Arbeit in den Mittelpunkt gerückt“, erzählt David Hesmondhalgh von der University of Leeds, Verfasser einer aufsehenerregenden Untersuchung über die Arbeitsbedingungen bei einer BBC-Talentshow. Klassenaspekte stehen dabei weiter im Mittelpunkt. Durch Bildungsreformen im Nachkriegsengland ist der Kultur- und Mediensektor für Angehörige der unteren Mittelklasse und der Arbeiterklasse durchlässig geworden. Daher ist das Problem vieler Untersuchungen über prekäre Arbeitsverhältnisse im Mediensektor: Mittelschichtswissenschaftler forschen über die Situation von ArbeitnehmerInnen, die ihrer eigenen sehr ähnlich ist.

In Großbritannien gilt Kreativität aber auch als ein politisches Heilsversprechen. Die 1997 an die Regierung gewählte Labour-Party machte die Förderung der „Creative Industries“ zum Prestigeprojekt. „Cool Britannia“ sollte entgültig Abschied von den Ruinen der fordistischen Produktion nehmen und an die Erfolge britischer Popkultur aus den 60ern anknüpfen. „Beschäftigte in den Kreativindustrien sind anfällig dafür, sich selbst auszubeuten“, stellt David Hesmondhalgh fest.

Diese Diagnose steht in einer Linie mit diskursanalytisch inspirierten Arbeiten, die Kreativität als „neuen Geist des Kapitalismus“ begreifen, von den Cultural Studies jedoch um die nötige Empirie angereichert werden. „Ironischerweise müssen viele Kreative letztendlich von Bürojobs leben, tun dies aber zu schlechteren Bedingungen“, so Angela McRobbie. Früher seien ausgebildete Textildesigner häufig hauptberuflich Lehrer geworden. Heute würden sie sich vermehrt mit Aushilfsjobs über Wasser halten. „Auf diese Weise müssen große Unternehmen und der Staat sich nicht mehr an den Kosten für die Krankheiten ihrer Mitarbeiter beteiligen“, erläutert McRobbie.

Wer nähte das Hakenkreuz auf Sid Vicious’ T-Shirt?

Krankheit, Arbeit, Selbstausbeutung – diese Begriffe haben wenig von der souveränen Geste der Dissidenz, mit der Cultural-Studies-Ikonen wie Dick Hebdige im Tragen von Sicherheitsnadeln Zeichen des Widerstands gegen die dominante Kultur der britischen Nachkriegsgesellschaft entdecken wollten. „Ich habe mich nie für die Romantisierung von Punk interessiert“, erklärt Angela McRobbie, „sondern dafür, welche materiellen Bedingungen ihm zugrunde lagen.“ Irgendjemand muss Sid Vicious’ Hakenkreuz-T-Shirt schließlich genäht und verkauft haben, bevor es zum Gegenstand situationistischer Umdeutungen werden konnte.

Wobei der Subversionswert dieser Umdeutungen begrenzt war. Punk zeigte seine langlebigsten Effekte im Aufbau unabhängiger Vertriebsstrukturen oder dadurch, dass er Frauen als Gleichberechtigte in der männlich geprägten Welt der heroischen Subkulturen zuließ. „Hebdige bewunderte die Punks, machte sich aber keine Illusionen über ihr politisches Potential. Die Zeiten, in denen Jugendkulturen als leicht von einem ‚Mainstream‘ zu unterscheidende Erscheinungen zu erkennen waren, sind vorbei“, erzählt Jeremy Gilbert, der an der University of East London über politische Sub- und Gegenkulturen forscht.

Lediglich eine Gruppe weißer englischer Arbeiterklassenjugendlicher sorgte 2005 für Aufsehen, als ein Einkaufszentrum das Tragen von Kapuzenpullis, die zusammen mit Sportschuhen und Burberry-Kappen als charakteristisch für die sogenannten „Chavs“ gesehen werden, verbot. „Chav ist nur eine vage Beschimpfung, es bezeichnet keine quasi-politisierte Identität, selbst wenn der Begriff eine Zeitlang positiv angeeignet wurde“, meint Jeremy Gilbert. Trotzdem bedeutet wachsende Skepsis gegenüber der politischen Wirkung von Subkulturen nicht gleichzeitig, dass sich das Interesse politisch motivierter Cultural-Studies-Lektoren nun wieder dem Staat zuwendet.

Anders als in den antirassisistischen Kämpfen der 70er und 80er kommt es heute aber nur selten zu einem Austausch zwischen Aktivisten und Akademikern. „Ich bezweifle, dass Climate-Camp-Aktivisten anfangen werden, Stuart Hall zu lesen“, so Gilberts Einschätzung.

Stichwortgeber Slavoj Žižek

Wobei Stuart Hall seine Rolle als Popularisierer von Kulturtheorie mittlerweile an den am Londoner Birkbeck-College lehrenden Slavoj Žižek abgegeben hat. Dieser ist neben den französischen „Speculative Realists“ ein wichtiger Stichwortgeber für das Netzwerk aus Blogs und Websites, die in der Tradition der frühen Cultural Studies Theorie und Alltag zu waghalsig parteiischen Texten verknüpfen.

Der junge britische Verlag Zero Books verhilft diesem Netzwerk zu größerer Resonanz und schafft damit gleichzeitig eine Plattform für politische Kulturkritik neben den vermehrt auf den lukrativen Markt für Studienanfänger zielenden Großverlagen wie Routledge.

„Universitäten stellen widersprüchliche Anforderungen an ihr Personal, unsere Texte sollen ebenso zugänglich wie kenntnisreich sein. Letztendlich kann man sogar über den Verdruss an der Uni schreiben, falls es in einer als wertvoll eingestuften Publikation geschieht“, erklärt Nina Power, Autorin des Blogs „Infinite Thought“ und Philosophiedozentin an einer Londoner Reformuniversität. In ihrem Buch „The One-Dimensional Woman“ beschäftigt sie sich mit weiblichen Rollenmodellen. „Feminismus in der Form von sexy Konsum und der Idee, dass Schuhe, Schokolade und Selbstbewusstsein der Schlüssel zur Befreiung sind, ist ein Witz.“ Womit Pop aber nicht zugunsten einer abstrakten Form von Politik aufgegeben wird, sondern dadurch politisch wirksam wird, wenn er sich selbst als historisch begreift. „Frühe Pornos, zum Beispiel, waren komödiantisch, geistreich und trotzdem explizit, während sie heute wie Kekssorten kategorisiert sind. Leider vergessen sowohl Pornografie als auch Feminismus permanent ihre eigene Geschichte.“

Was der Linken nicht passieren sollte. Denn sie vergisst gerne, dass sich ein widerständiges Bewusstsein weder allein an der Exegese der Klassiker noch durch einen als dissident stilisierten Konsum herausbildet. Sondern seinen ersten Anstoß in den Momenten findet, in denen Erfahrungen und die Deutung der eigenen Lebenswelt nicht mehr zueinander passen.

Der Autor lehrt Cultural Studies an der Ruhr-Universität Bochum