Alice-Ausstellung: Spirale ohne Fortschritt

Die Ausstellung "Alice im Wunderland der Kunst" in Hamburg erzählt höchst vergnüglich die Rezeptionsgeschichte von Lewis Carrolls Kinderbuch.

Macht Ernsthafte albern: Pipilotti Rists Riesenmöbel-Installation "Das Zimmer" (1994). Bild: Stefan Rohner / Hamburger Kunsthalle

HAMBURG taz | Nein, wir fangen jetzt nicht auch so an, mit diesem Niedlich-Geschwätz, dem Geschwärme von der Grinsekatze und dem verrückten Hutmacher aus Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“. Denn wozu bitte, so würde Carrolls Alice fragen, soll sie gut sein, diese sentimentale Vermarktung, deren Ausläufer derzeit in der Hamburger Kunsthalle zu besichtigen sind? Wem nützt es zu wissen, dass Alice, Königin und rauchende Raupe auf Tellerchen und Tässchen abgebildet waren, als sei sie ein anderer Harry Potter?

Das ist ulkiger und ulkiger, würde Alice vielleicht auch sagen, „und außerdem komme ich da viel zu groß raus“ – in dieser Ausstellung, wo Alice auf riesengroßen Fotos thront, wo sie auf Gemälden mal winzig, mal monumental vorm Theatervorhang steht und wo auch Kostüme aus „Alice“-Inszenierungen hängen. Und wo es vor britischer Kleinmädchen-Niedlichkeit nur so strotzt: Da gibt es gestellte Fotos – Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll fotografierte nicht nur Alice, sondern auch andere kleine Mädchen – Skripte, Zeichnungen und Pläne, die zeigen, wie gezielt Carroll die Zeichnungen in die Texte mixte.

Aber das ist natürlich nur die obere Ebene der Alice-Geschichten, die leicht verdauliche Oberfläche gewissermaßen. Sieht man näher hin und bringt die braven Mädchenfotos zusammen mit den bleichgesichtigen, schwindsüchtigen Ophelias der präraffaelitisch genannten Maler, die gleich daneben hängen, lernt man mehr über das hier zelebrierte Frauenbild: Dies sind keine selbstbewussten Wesen, sondern fragile Kunstfiguren, madonnenhaft überhöht – mithin auf kaum verhohlenen Chauvinismus deutend. Schon dass Carroll seine Alice als frisch und neugierig darstellt, kündet ja nicht von Emanzipation. Die angebliche Unverbildetheit der Jugend – Teil zeitgenössischer Klischees – wird sich abschleifen, bis das Mädchen zur anämischen Frau geworden ist. Dann nämlich ist es aus mit der Renitenz.

Abgesehen davon: Wie Carroll seine Alice auf die Wunderwelt reagieren lässt, das hat etwas durchaus Koloniales: Das Mädchen gibt sich freundlich, aber auch ihrem Hintergrund gemäß, wenn sie etwa das Baby der Herzogin maßregelt: „Es schickt sich nicht, zu grunzen.“ Will sagen: Alice bleibt in der Wunderwelt bei ihren eigenen Regeln und verlässt nie den Kontext ihrer Maßstäbe und Sozialisation.

Diesen Subtext, den Umgang mit dem Fremden, aber thematisiert die Ausstellung nicht. Die Chance für eine politische Einordnung wurde da vertan. Zum Thema gemacht haben die Kuratoren stattdessen die kunstimmanente Rezeption der Alice-Geschichten. Konzentriert haben sie sich auf das Surreale: Salvador Dalí lässt seine Alice im Traum herum schweben, Max Ernst wirft Alice-Kürzel aufs Papier. Da wird Alice von der historischen zur Kunstfigur, und von da ist es nur ein kleiner Schritt zu den psychedelisch schrillen Blau-Rot-Abstraktionen eines Adrian Piper, der den Wahnsinn des Wunderlands in drogengesteuerte Halluzinationen übersetzt.

Für psychedelische Künstler wie Piper bieten sich Carrolls Geschichten an mit ihrem reichhaltigen Repertoire aus Wahnsinn und Wahrnehmungs-, Raum- und Zeitverschiebungen. Ganz nebenbei erfand Carroll auch noch die interaktive Erzählung, die er immer wieder durch Lieder und Gedichte aufbricht.

Interaktiv interessant wird Hamburger Ausstellung nun immer erst da, wo sie über das 2-D-Prinzip hinausgeht: Wenn sie den Besucher mit Pipilotti Rist zwingt, in die Sessel eines Riesenwohnzimmers zu klettern. Da werden auch die Ernstesten unter den Besuchern plötzlich albern, und das überraschend schnell.

Alice gemäß gibt es auch das Gegenteil: die winzige, 50 Zentimeter hohe Tür, durch die sich quetschen muss, wer unter Stephan Hubers Riesen-Hut schlüpfen will, der unablässig Sprüche wie „wir zählen auf dich“ oder „wir vernichten dich“ quakt. Soll wohl Alice’ Suche nach Identität anzeigen, und das versteht man recht schnell. Interessanter ist aber auch hier der nicht-intellektuelle Zugang, wie ihn etwa ein Video von Hanna Haaslahti bietet: Da rennt man ständig einem kleinen Mädchen davon, das, wenn man ins Bild tritt, bizarre Schatten wirft und ganz und gar nicht greifbar ist. Ein ewiges Spiel – und man erreicht sich nie.

Als Spirale ohne Fortschritt lässt sich auch die gesamte Ausstellungen verstehen, die zwar mit modernen Werken endet, aber auch mit sattsam bekannten Themen: der Pubertät etwa, wenn eine Jugendliche auf Susanna Hesselbergs Fotos in den Spiegel fast hineinbeißt. Oder mit Annelies Strba: Auf deren Fotos schwimmt Alice fast wie Ophelia in irgendeinem Pflanzenmeer, unklar, ob sie noch am Leben ist.

Und so bleibt die Ausstellung auch im Schlussakkord auf der deskriptiven Ebene. Sie begnügt sich damit, das Phänomen Alice durchzudeklinieren, ohne eine gesellschaftspolitische Dimension zu erfassen. Eine schöne, märchenhafte Sommerausstellung, das ist sie. Ein waches Statement nicht.

bis 30. 9., Hamburger Kunsthalle
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