Theaterfestival Avignon: Die Spur der Steine

Die Uraufführung in einem Steinbruch: In eine imaginierte Zeit vor der Trennung der Religionen und Sprache führt der Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui mit „PUZ/ZLE“.

Fragen, wie lebendig der tote Stein ist: Cherkaouis Choreografie „PUZ/ZLE“ in Avignon. Bild: koen broos

Der alte Steinbruch von Boulbon in der Nähe von Avignon ist ein magischer Ort. Die Abbruchtätigkeit von Menschenhand hat sich unerbittlich in die sanfte Landschaft der Provence hineingefressen und ihr Innerstes freigelegt.

Die Überreste sind zu einer zweiten, archaisch abweisenden Natur geworden. Der Steinbruch ist noch immer in Bewegung und gibt weiterhin Geröll frei, wie ein Organismus mit geheimnisvollem Eigenleben.

Als Regisseur kann man diesen Ort als grandiose Theaterkulisse mit Gratisaura verstehen. Man kann ihn aber auch befragen und bearbeiten.

Der flämische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui wollte für die diesjährige Ausgabe des Festivals in Avignon ursprünglich eine alte Arbeit wiederaufnehmen. Doch der Steinbruch übermannte ihn mit der Idee, den Ort als eine Art XXL-Puzzle zu begreifen, und den Versuch zu unternehmen, dieses Puzzle zu spielen, als ins Gigantische vergrößerte Sisyphos-Aufgabe.

Steine zum Reden bringen

„Puz/zle“ ist aber auch der Versuch, die Steine zum Reden zu bringen und die Menschen versteinern zu lassen. Auf der flachen Bühne bleiben zwölf quadratische Platten, wie aus Stein gehauen, augenscheinlich aber leicht wie Styropor und ständig in Bewegung. Acht Tänzer und drei Tänzerinnen machen sich ruhelos an ihnen zu schaffen, ordnen sie zum Stelenwald, zur Treppe, zum Halbkreis, zum Brunnenschacht, zum Turm, zum Gefängnis, kurzum: zu archaischen Formationen.

Am Anfang stehen die Platten frontal hintereinander geschichtet, ein leichtes Dröhnen unterfüttert drohend den Zikadenlärm, dann wird die Plattenfront zur Videofläche: Eine Kamera fliegt durch leere Museumsräume geradeaus von Raum zu Raum, durch immer gleiche, geöffnete Türen, in einer Endlosschleife. Dann kommen die Tänzer und rennen gegen die nun bilderlose Wand, prallen ab, stehen auf, nehmen erneut Anlauf. Sie tragen zunächst schwarze Pumphosen, im Laufe des Abends nähern sich die Kostüme immer mehr Alltagskleidern an.

Auf einem Absatz des Steinbruchs kommen in schwindelnder Höhe erstmals die Musiker zum Einsatz: Das korsische Männergesangssextett A Filetta stimmt urtümliche, häufig im Orgelton verharrende Gesänge an und die libanesische Sängerin Fadia Tomb El-Hage lässt darüber ihren leuchtenden, zwischen Orient und Okzident schillernden Mezzosopran weit ausschwingen. Eine Stimme, die aus einer anderen Zeit zu kommen scheint, ätherisch und erdig, schwerelos und leidgeprüft zugleich. So stellt man sich die Stimme des Orakels vor.

Eine Art musikalischer Ursuppe

Die ungemein suggestiven Klänge, die dem ganzen Abend eine enorme Sogkraft geben, wirken fremd und ortlos. Sie suggerieren eine Zeit vor der Trennung in Religionen, Nationalitäten und Sprachen; solche Räume der Vorstellung zu öffnen, ist charakteristisch für die Arbeit des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui. Dazu tragen auch die Flöten- und Schlagzeug- und Gesangssoli von Kazunari Abe bei.

Korsische Hirtengesänge, orakelnder arabischer Ziergesang, japanische Trommelrituale und alte Arbeitsgesänge verschmelzen zu einer Art musikalischer Ursuppe. Fadia Tomb El-Hage balanciert stilistisch auf dem Hochseil und verbindet europäische Traditionen nach Hildegard von Bingen mit barocken Schlenkern, gregorianischer Totenmesse und arabischen Litaneien zu einem faszinierenden Lamento.

Die Tänzer kämpfen sich derweil virtuos und mitunter mit artistischen Einlagen am Sisyphos-Los der Körperlichkeit, an Entfremdungsprozessen und kriegerischen Wettbewerben und Konflikten ab. Mal entwickeln einzelne Körperteile ein quälendes Eigenleben, dann wieder erstarren die Tänzer zu lebenden Bildern und Skulpturen, an denen sich gegen Ende – der einzige heitere Moment des Abends – emsig ein Steinmetz zu schaffen macht. Aber immer wird weitergebaut, werden weiterhin Steine bewegt, später auch Würfel und handgroße Steine, die als Waffen eingesetzt werden bis hin zu einer brutalen Steinigungsszene.

Immer wieder fragt Cherkaoui aber auch, wie lebendig der tote Stein tatsächlich ist – was erzählen die stummen Steine, haben sie ein Gedächtnis des Seins? Und er legt die Frage nahe, wie nahe der Mensch selbst der Versteinerung kommt im Angesicht der Vergänglichkeit. In Endlosschleifen treibt das die Tänzer um, bis sie in einem langen Schlusscrescendo, das gewisse Längen hat, schließlich ins Grab sinken.

Cherkaoui gelingen mit seiner großartigen Eastman-Truppe starke, bezwingende Bilder. Ohne ins Formelhafte oder ins esoterische Raunen abzugleiten, verliert die Choreografie selbst in ihren furiosen Momenten nie den Gestus des ruhigen, abgeklärten Rituals. Ein grandioser Abend.

PUZ/ZLE: Deutsche Uraufführung am 25.9. beim Düsseldorf Festival

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