Die Regeln des Gesellschaftsspiels

SOZIODRAMA Mit „Die feinen Unterschiede“ erzählt Sylvie Michel davon, wie sich das Verhältnis zwischen einem Frauenarzt und seiner Putzfrau dramatisch verändert

Sylvie Michel kann nuanciert die sozialen Differenzen in einer kleinen Gruppe von in Berlin lebenden Menschen inszenieren

VON WILFRIED HIPPEN

Der Titel ist Programm, und wie nuanciert Sylvie Michel in ihrem Debütfilm die sozialen Differenzen in einer kleinen Gruppe von in Berlin lebenden Menschen inszenieren kann, macht sie gleich in einer der ersten Sequenzen deutlich. In der Küche einer Arztpraxis unterhalten sich da ein Frauenarzt und die Putzhilfe in einem vertrauten, fast familiären Ton. Ein zweiter Arzt kommt dazu und spricht nur in Befehlssätzen mit der Frau, eine Arzthelferin ordert sie schließlich mit einzelnen Worten herum und duzt sie. In dieser alltäglichen, dramaturgisch scheinbar inhaltslosen Szene wird pointiert deutlich gemacht, in welchem Maße die soziale Stellung die Umgangsformen bestimmen. „Die feinen Unterschiede“ ist nicht umsonst auch der Titel eines Buches des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, in dem genau solche Unterscheidungsmerkmale untersucht werden. Wie sehr die liberale Attitüde des Frauenarztes seiner Angestellten gegenüber durch das Machtgefälle zwischen den beiden bedingt ist, und wie schnell diese Fassade in einer Krisensituation bröckeln kann, davon wird hier erzählt.

Und zwar konsequent aus der Perspektive von Sebastian. Dieser ist ein Spezialist für In-Vitro-Fertilisation, allein erziehender Vater und so erfolgreich, dass er abends in einer Fernsehtalkshow als Fürsprecher für die künstliche Befruchtung auftritt. Vom „Machbarkeitswahn“ spricht dort einer seiner Widersacher und wie sehr auch Sebastian unter der Illusion leidet, er habe sein Leben im Griff, wird bald deutlich. Nicht etwa, weil sein 17-jähriger Sohn über Nacht wegbleibt und am nächsten Morgen nicht aufzufinden ist, sondern weil mit ihm auch die Tochter von Sebastians bulgarischer Putzfrau Jana verschwunden ist. Wo sich der Mächtige eine vermeintlich tolerante Gelassenheit leisten kann, gerät die Schwache schnell in Panik. Die Angst um ihre Tochter lässt sie die Hierarchie und bislang selbstverständlichen Umgangsformen vergessen. Sie meint, ihre Tochter der Verantwortung von Sebastian überlassen zu haben und fordert von diesem, sich ebenso energisch bei der Suche nach ihren Kindern zu engagieren wie sie es tut. Die resolute Frau bringt ihn dazu, ein entscheidendes Gespräch mit Patienten (oder in dieser Branche wohl doch eher Kunden) abzubrechen und sie durchsucht eigenmächtig seine Wohnung, aus der er selber schließlich kurz ausgeschlossen ist, weil sie ihren Arbeitsschlüssel von innen stecken ließ. Es gibt viele von diesen Momenten, die von einem genauen Auge und Einfallsreichtum beim Drehbuchschreiben zeugen. Dabei ist die Grundidee die einfache und seit Antonionis „L’avventura“ immer wieder gerne erzählte Geschichte vom plötzlichen, rätselhaften Verschwinden einer Frau.

Durch diese eher minimalistische Dramaturgie (mit einer in sich schlüssigen, weder forcierten noch melodramatischen Auflösung) hat sich Sylvie Michel Raum geschaffen, um zugleich detailreich und pointiert das Milieu zu beschreiben, in dem ihre Protagonisten leben. So zeigt sie etwa mit einer fast schon dokumentarischen Sachlichkeit die Arbeitsverhältnisse ihrer Figuren und bietet dabei en passant eine interessante kleine Einführung in die Praxis der In-Vitro-Fertilisation. Und sie zeigt, in welchem Umfang das modern alltägliche Leben durch elektronische Geräte bestimmt ist. Man spricht nicht nur durch Handys miteinander, sondern auch über sie. Wer welche SMS wann geschickt und wer sie dann ignoriert hat, ob jemand ein Handy hat und ob es abgeschaltet war, wer welche Nummer gespeichert hat und in welcher Situation jemand angerufen wird. Selten ist diese neue Ebene der Kommunikation so präzise und kalt gezeigt worden wie hier. Dass Michel auch witzig sein kann, zeigt sie in einer Bettszene, bei der Sebastian und eine junge, schicke und kühle Frau lieber simsen und googlen als miteinander zu schlafen.

Die Französin Sylvie Michel lebt in Berlin und diese Perspektive scheint ihren analytischen Blick auf die hiesigen gesellschaftlichen Verhältnisse geschärft zu haben. Bisher hat sie bei Filmprojekten als Script Girl mit Wim Wenders, Agnieszka Holland, Nana Djoredjadze und Mika Kaurismäki gearbeitet. Dies ist ein vielversprechendes Debüt.