SPD wählt Landeschef: Globale Elite attackiert Provinz-Charme

Die inhaltlichen Unterschiede zwischen Müller und Stöß sind kaum relevant. Dafür heben sich die Kandidaten für den Parteivorsitz in ihrem Auftreten umso deutlicher voneinander ab.

Auch wenn Jan Stöß den unverbrauchten Neuerer gibt und ihn vor wenigen Monaten noch kaum jemand kannte – er weiß, wie man in der Berliner SPD an die Macht gelangt und sich Mehrheiten organisiert. Seine späte Kandidatur war keine spontane Idee, und es war kein Zufall, dass ein Bezirk nach dem anderen sich hinter ihn stellte. Stöß verfügt über ein gut funktionierendes Netzwerk von Unterstützern. Er weiß hinter sich eine Riege junger, ehrgeiziger Politiker, die gegen das System Wowereit aufbegehren.

„Arm, aber sexy“ ist vorbei

Die Möglichkeit eines Machtwechsels an der Parteispitze spiegelt aber auch die Machtverhältnisse in Berlin wieder. Wowereits Zeit, das wird immer deutlicher, läuft ab: die Zeit der „Arm, aber sexy“-Partys, der großen Freiheit auf Baulücken und Brachen. Parteichef Müller, in Tempelhof geboren, der mit seinem Vater eine kleine Druckerei betreibt, hatte sich einst ebenso fleißig wie bieder durch die Parteiebenen nach oben gearbeitet. Stöß steht für ein neues, ein anderes Berlin – das der Zugezogenen aus dem Süden und Westen Deutschlands, dem Rest Europas. Das Berlin, das endgültig vom maroden Provinz-Charme befreit wird, das wächst und zunehmend auf die mobile globale Elite setzt, die in der Metropole Fuß fasst.

Auftritt: Dezent. Glatt. Redet gut. Typ Werber. Ist aber Richter.

Outfit: Offener Hemdkragen. Leger, aber elegant.

Durchblick: Brille Modell Panzerknacker. War in den 70ern modern - und kommt heute hip daher.

Stallgeruch: Vom Dorf. Heute wieder im Dorf (Kreuzberg).

Fahrzeug: Fahrrad. Mit Aktentaschenhalter.

Weltoffen und international wünscht Stöß sich die Stadt. Das klingt erst einmal fortschrittlich. Aber genau dem hippen, jungen, auf die globale Elite orientierten Berlin fehlt es nicht an Lobbyisten. Und der gebildeten, leistungsorientierten Mittelklasse nicht an Vertretern – genau auf diese zielt Stöß’ mittelfristiges Projekt einer rot-grünen Koalition. Auf die wirklich drängenden Fragen der Stadt hat auch Stöß keine besseren Antworten als Müller: Wie kann das soziale Auseinanderbrechen der Stadt verhindert werden, wenn sie für die einen boomt und für die anderen ein immer härteres Pflaster wird, die soziale Realität der beiden Gruppen also immer weiter auseinanderdriftet? Was tun dagegen, dass ein Drittel aller Berliner Kinder von Hartz IV lebt und ein Sechstel der Bevölkerung? Oder dagegen, dass Verdrängung ein immer bedrohlicheres Problem für viele Berliner wird? Es sind schlechte Zeiten für all jene, die nicht von den aktuellen Folgen rund um den Boom der Stadt profitieren.

Auch Teile der Basis, die sich von der Wahl des Kandidaten Stöß einen neuen Politikstil, vor allem aber eine neue politische Ausrichtung erhoffen, dürften schon bald enttäuscht werden. Stöß wirbt intern mit mehr Partizipation, einer klareren Abgrenzung vom Senat, er ist Sprecher des linken Flügels der Berliner SPD. Doch seine Kandidatur hat er, weit entfernt von einer ausführlichen und öffentlichen Diskussion, geschickt im Hintergrund vorbereitet. Seine Unterstützer haben jeden Versuch der aktuellen SPD-Führung, einen Mitgliederentscheid über den Vorsitz durchzubringen, souverän abgewehrt. Schon das zeigt, dass Stöß über eine gehörige Portion Ehrgeiz und Machtstreben verfügt. Inhaltlich liegt er in vielen Punkten genau auf Müllers Linie – nur dass er seine Positionen offenbar deutlich geschickter zu verkaufen weiß.

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