Kinofilm „Martha Marcy May Marlene“: Martha, wohin willst du?

In Sean Durkins verstörendem Film „Martha Marcy May Marlene“ befreit sich eine junge Frau aus den Fängen einer Sekte. Und bleibt doch seelisch gefangen.

Martha (Elizabeth Olson) und ihre Schwester Lucy (Sarah Paulson). Bild: 20th Century Fox

Eine Landkommune mit Sektencharakter stellt man sich wohl genau so vor: Junge Frauen mit ungezähmten langen Haaren in groben, altmodisch wirkenden Kleidern und junge Männer in Overalls, dazu ein paar Hunde und ein paar Babys. Feldarbeit, Wäscheaufhängen, Herumsitzen und dem Gitarrenspiel der Leitfigur zuhören – alles in allem ein friedvolles Zusammenleben, das allerdings bei aller Freizügigkeit seine Regeln hat.

Zum Beispiel die, dass die Frauen kochen und den Tisch decken und dann die Männer zuerst essen lassen, während sie artig im Flur warten. Auch das Schlafen auf gemeinsamen großen Matratzenlagern scheint gewöhnungsbedürftig. Aber doch kein ausreichender Grund für die Panik, in der Martha (Elizabeth Olsen) sich eines frühen Morgens aus dieser Beschaulichkeit davonmacht – und mit dieser Flucht Sean Durkins mehrfach preisgekröntem Film den Kick-Start versetzt.

Atemlos packt sie ihren Rucksack, schleicht sich hinaus und rennt schließlich in den Wald. Von ihrem angstverzerrten Gesicht her zu urteilen, könnte man meinen, ihr seien die Messerschwinger des neuesten Torture-Porn-Movies auf den Fersen, dabei scheinen ihr lediglich eine Handvoll Mädels in Nachthemden zu folgen. Und die Stimme, die ihr „Martha, wohin willst du?“ nachruft, klingt eher besorgt als bedrohlich. Erst als Martha ein Telefon findet und ihre Schwester anruft, wird offenbar, in welchem Zustand von innerlichem Terror sie sich befindet.

Es ist die tiefe Verstörung, das existentielle Zittern, in dem die eigentliche Wirkung des Sektenlebens auf Martha nachhallt. Und hier wird schon deutlich, dass weniger die „Inhalte“, die in dieser Landkommune gelebt wurden, die Erschütterung ausmachen, als vielmehr die Form: das absolute Zugehörigkeitsgefühl, das sie vermitteln. Sich davon zu lösen, ist mit einem Akt der Gewalt verbunden, der in der Tiefe der Psyche seine Spuren hinterlässt. Den schwierigen Balanceakt einer solchen Ablösung beschreibt „Martha Marcy May Marlene“ mit einer Eindringlichkeit, die ihrerseits im Zuschauer lange nachhallt.

Flashbacks

Martha findet Unterschlupf bei ihrer Schwester Lucy (Sarah Paulson), die mit Ehemann, einem erfolgreichen Immobilienmakler, eine großzügige Villa an einem See irgendwo in Connecticut bewohnt. Es ist ein Ort, der mit seinen modernen, klaren Räumen und der großen Distanz zu nachbarlichen Anwesen eine extreme Ruhe vermittelt. Die äußerliche Übersichtlichkeit bildet einen harten Kontrast zu Marthas Aufgewühltheit und Anspannung – und auch zur verwirrenden Unsicherheit des Zuschauers darüber, was genau in der verschlossenen Figur vor sich geht.

Aus der Ruhe des Hauses am See schwingt der Film in wiederholten Flashbacks zurück zu Marthas Zeit in der Sekte. Es sind Erinnerungen, die sie mehr überfallen, als dass sie evoziert werden. Wann immer die Schwester sie befragt, schweigt Martha. Oder verfällt in floskelhafte Anklageformeln. Schwester und Schwager geben sich Mühe, nachsichtig zu sein, und sind doch immer wieder geschockt davon, wie sehr sie sich in ihrem Sozialverhalten, ihren Tischsitten und Schamgrenzen ihnen entfremdet hat.

Die Flashbacks erzählen von Marthas Ankunft in der von Patrick (John Hawkes) geführten Sekte. Patrick gibt Martha einen neuen Namen, Marcy May, und zeigt seine Gabe zum Charismatiker in der gezielten Aufmerksamkeit, die er ihr als Neuankömmling zuteil werden lässt. Regisseur Durkin, der auch das Drehbuch schrieb, vermeidet klug jede allzu spezifische Angabe zum „Sektenglauben“. Es bleiben die Umrisse einer auf Konsumkritik, Selbstversorgung und Kollektivgeist gegründeten Gemeinschaft.

Hier spricht Marlene

Für die weiblichen Mitglieder – die sich zur Verwirrung der Außenwelt am Telefon alle „Marlene“ nennen – gehört ein schmerzhafter sexueller Initiationsakt mit dazu. Aus diesen schemenhaften Zeichnung entsteht eine erstaunlich präzise Blaupause dessen, was diese Art von Abgeschiedenheitssekte ausmacht, wie Unsicherheiten und Verletztlichkeiten ausgenutzt werden und mit Pseudosicherheiten und gezielten Verletzungen Gefolgschaft erzeugt wird.

Vieles erzählt Durkin mit den Mitteln der Suggestion, was bedeutet, dass der Zuschauer oft im Unklaren gelassen wird. Sind sie ihr tatsächlich auf den Fersen? War ein Überfall oder gar ein Mord Auslöser für Marthas Flucht? Ist das Haus der Schwester nur ein weiteres Gefängnis? Und deren Leben im Konsum auch nur Verblendung? Es kann erschreckend sein, wie sehr die Wahrnehmung der Realität davon abhängt, wie wir uns im Innern fühlen.

„Martha Marcy May Marlene“. Regie: Sean Durkin. Mit Elizabeth Olsen, Sarah Paulson, USA 2011, 101 Min.

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