Ein Jahr nach dem Fukushima-Gau: Die deutsche Atomangst

Berechtigte Sorge oder kollektive Hysterie? Den Deutschen ist das Risiko der Atomkraft zu hoch. Gesellschaftlicher Konsens gelingt oft erst nach Katastrophen.

German Angst. Bild: snapshot-photography/Tobias Seeliger

Ein Jahr nach Fukushima ist die Zustimmung der Deutschen zum Atomausstieg weiter gestiegen, so das Ergebnis einer Umfrage von TNS Emnid: über 90 Prozent befürworten den Abschied von der Atomkraft. Diesem breiten gesellschaftlichen Anti-Atom-Konsens scheint in vielen anderen Ländern eine durch die Katastrophe kaum veränderte positive Haltung zur Nutzung der Kernenergie entgegenzustehen: Im Ausland werden die deutschen Befürchtungen oft als überängstlich belächelt, und auch hierzulande gibt es kritische Stimmen.

Ist die deutsche Atomangst größer als das reale Risiko? Handelt es sich gar um eine Form kollektiver Hysterie?

Aus Sicht der Entscheidungstheorie als dem Grundhandwerkszeug des Risikoforschers muss das tatsächlich so scheinen. Verglichen mit Flugzeugabstürzen, Autounfällen, Grubenunglücken, Herzinfarkten und anderen fatalen Ereignissen ist die Eintrittswahrscheinlichkeit einer nuklearen Katastrophe auch nach Fukushima verschwindend gering.

Dennoch sind laut der zitierten Umfrage über die Hälfte der Deutschen selbst dann für den Atomausstieg, wenn dieser mit höheren Strompreisen einhergeht und der Ersatz von Atomstrom durch andere, auch regenerative Energien wohl in der Summe eine negative Umweltbilanz aufweist. Das erscheint so manchem als irrational.

Entscheidungstheoretischer Erfahrungswert

Typischerweise berufen sich allerdings die Befürworter der Kernenergie ebenso wenig wie ihre Gegner auf den entscheidungstheoretischen Erwartungswert, also auf das Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und erwartetem Schaden. Zwar streiten die Kontrahenten auch darüber, wie die Wahrscheinlichkeiten und Folgen eines GAUs genau zu beziffern sind.

Meist verläuft die Debatte jedoch so: Die Befürworter betonen die geringe und in ihren Augen daher zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit eines GAUs, so gravierend dessen Folgen auch wären. Die Gegner heben demgegenüber ungeachtet aller Wahrscheinlichkeiten die katastrophalen und gar nicht absehbaren Auswirkungen hervor, die es unverantwortlich machten, sich auf das Risiko Kernkraft überhaupt einzulassen.

Die Risikoberechnungen der Experten in den Ämtern, wissenschaftlichen Instituten, in der Atomindustrie und Versicherungswirtschaft sowie den Nichtregierungsorganisationen klaffen so weit auseinander, dass nur ein Schluss möglich scheint: Belastbare Erwartungswerte stehen letztlich nicht zur Verfügung. Das Risiko ist nicht kalkulierbar, da die Methode der Entscheidungstheorie bei extrem geringen Wahrscheinlichkeiten in Kombination mit extrem gravierenden Folgen an ihre Grenzen stößt; deshalb ist das Risiko eines GAUs auch nicht versicherbar. Berechnete Erwartungswerte können uns keine Entscheidungshilfe mehr geben, so dass wir auf eine „intuitive“ Risikoabschätzung angewiesen sind.

Hier prallen nun die Sichtweisen der Befürworter und Gegner aufeinander, und der Diskurs besteht im Wesentlichen darin, die jeweils andere Sichtweise zu diskreditieren. Dem Befürworter wird Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, was dieser mit dem Verweis auf die Alternativlosigkeit der Atomenergie angesichts andernfalls entstehender ökonomischer und ökologischer Kosten quittiert.

Angst, die abstrakteste Gefahren aufspüren kann

Besonders beliebt unter Atomkraftbefürwortern ist die Strategie, dem Gegner Hysterie zu unterstellen. Auch von Befürwortern der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin wird diese Strategie gern gewählt. Sie bietet sich schon deshalb an, weil Angst kein Urteil der Vernunft, sondern ein Gefühl ist, und zudem unter dem Verdacht steht, uns den Blick für mögliche Handlungsoptionen zu verstellen.

Zwar spielt Angst, indem sie uns ermöglicht, auf Gefahren instinktiv richtig zu reagieren, eine unverzichtbare Rolle für das Überleben und verschafft uns überdies langfristig einen evolutionären Vorteil, weil sie uns dazu bringt, selbst für unwahrscheinliche, aber katastrophale Ereignisse Vorsorge zu treffen. Jedoch, so die biologistische Lesart des Kostenarguments der Atomkraftbefürworter, bindet eine zu ausgeprägte Vorsorge zu viele Ressourcen und hemmt so unser Wachstum.

Emotionstheoretisch betrachtet geht dieses Argument insofern fehl, als die deutsche Atomangst natürlich nicht einfach eine genetisch vorprogrammierte primitive Reaktion des Überlebenskampfes ist. Sie ist keine Basisemotion, sondern eine hochkomplexe emotional fundierte Einstellung. Angst ist nur ein Teil dieser Einstellung, allerdings eine Angst, die abstrakteste Gefahren aufspüren kann; zugleich schließt diese Einstellung ein Mit- und Verantwortungsgefühl für andere Wesen und die Natur mit ein.

Die sogenannte Atomangst ist kein reines Naturprodukt unserer biologischen Evolution, sondern wesentlich das Ergebnis eines kulturellen und zivilisatorischen Prozesses und verleiht uns eine spezifische Sensibilität für die Gefahren der Nukleartechnologie, vergleichbar spezifischen Sensibilitäten für andere gesellschaftliche Gefahrenpotenziale wie Fremdenhass, Benachteiligung von Frauen, Tierquälerei, Kriminalität, Korruption, Zerstörung der Natur und so weiter. Charakteristisch für solche Sensibilitäten ist, dass sie durch wechselseitige Kritik kontinuierlich revidiert und fortentwickelt werden, so dass es schon deshalb unangemessen ist, sie von vornherein als irrational abzuwerten.

Nicht jede zivilisatorische Veränderung ist ein Fortschritt. Aber offensichtlich ist unsere Wahrnehmung zumindest in einigen Bereichen schärfer geworden und erstreckt sich heute auf Gegenstände, deren Gefahrenpotenzial zuvor ignoriert wurde. Der Durchbruch zum gesellschaftlichen Konsens gelingt solchen Fortschritten oftmals im Nachgang großer Katastrophen, die der Allgemeinheit neue Gefahren plötzlich schockartig vor Augen führen.

Deutsches Paradigma

Das klassische deutsche Beispiel ist der Holocaust, dessen Erfahrung eine selbstkritische deutsche Erinnerungskultur mit einer geschärften Sensibilität für politische Allmachtsfantasien und Rassenhass hervorgebracht hat. Ist es entsprechend ein Fortschritt, wenn, ausgelöst durch die Katastrophe in Fukushima, über Nacht die in den achtziger Jahren von der Anti-Atomkraft-Bewegung entwickelte Perspektive zum deutschen Paradigma wird – nachdem in Tschernobyl ja, für die westliche Welt ohne Belang, bloß ein „kommunistischer Reaktor“ hochgegangen war, wie Franz Josef Strauß es formuliert hat? Ist die deutsche Atomangst berechtigte Sorge statt kollektiver Hysterie?

Um das sein zu können, müsste die Atomangst sich langfristig als eine Einstellung erweisen, die von allen geteilt werden kann, und zwar sowohl intellektuell als auch emotional. Dazu müssten, unter der Ägide der Experten, alle für die Bewertung relevanten Aspekte einschließlich der Zahlen und Fakten in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang gebracht und nicht zuletzt auch Widersprüche integriert werden können.

In einem ersten Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel muss der Atomkraftgegner auch die ökonomischen und ökologischen Kosten des Atomausstiegs sehen, während umgekehrt der Befürworter nicht den Blick vor den Folgen potenzieller Reaktorunfälle, vor der Problematik der Endlagerung der radioaktiven Abfälle und so weiter verschließen darf – anders als in Japan, wo man auf diesem Auge lange blind war und die Bomben von Hiroshima und Nagasaki mit dem Mantel einer „friedlichen“ Nutzung der Kernenergie bedeckte.

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