Serious Games: Lernen im nächsten Level

Auf der Karlsruher Learntec-Messe kämpfen Lernende nicht mehr um Noten, sondern um Level. Hinter den Games steckt die milliardenschwere Computerspielindustrie.

Daddelnd lernen – die Zukunft der Schule? Bild: Christine Roth/Imago

KARLSRUHE taz | Der Referent ist jetzt in Fahrt. "Die Königsklasse ist es natürlich, wenn Sie das Game mit einem echten Menschen bestücken", sagt er. "Das ist besser als jeder Avatar."

Tatsächlich taucht nun im Spiel ein alter Chinese auf. Er heißt Ding Hong, hat ein Mao-Käppi auf dem Kopf und trägt jene Revolutionsuniform, die ihn als Mitglied der kommunistischen Partei glaubwürdiger macht. Oder machen soll. Ding Hong ist angetreten, eine alteingesessene niederländische Reederei zu übernehmen, sie ist in dritter Generation in den Händen der Familie 't Hoen.

Verhindern können die feindliche Übernahme nur noch fünf Teams. Es sind Bewerber, sie kommen von niederländischen Unis. Sie wollen bei einer großen Anwaltskanzlei anheuern. Aber vorher müssen sie das Game überstehen. "Natürlich stellen wir nur die besten der Besten ein", sagt eine Stimme aus dem Off. "Failure is not an option."

Einstellungsspiel statt Bewerbungsgespräch

Es wird nicht geschossen in dem Game, das bereits Preise gewonnen haben soll. Es ist das Einstellungsspiel der Kanzlei Houthoff Buruma. Sie wählt ihre Leute nicht mehr nur über Gespräche aus, sondern testet sie vorher in einem Spiel, einem Serious Game.

Serious Games sind Spiele, mit denen man etwas lernen kann. Solche Lerncomputerspiele sind gerade der Renner der Branche. Auf der Learntec in Karlsruhe, der deutschen Börse für IT-gestütztes Lernen, haben die Games einen eigenen Bereich bekommen. Es ist der am besten funktionierende (hier gibt es sogar freies WLAN) und der bestbesuchte.

Es werde zu einer "Gamification des Unterrichts und des Lernens kommen", sagt Peter Henning voraus. "Wer von uns hätte sich das früher nicht gewünscht", sagt er und meint: dass man spielend lernen kann. Henning ist Professor an der Fachhochschule für Gestaltung und Berater der Karlsruher Learntec. Lernen die Schüler bald, indem sie sich, statt sich durch Klausuren zu hangeln, mit ihren Lehrern durch Welten und Levels daddeln?

"Das wird in 20 Jahren noch nicht so weit sein", sagt Christian Müller. Dafür seien die Schule und ihre Bürokratie viel zu träge. "Deswegen sind wir doch so weit hinten dran bei Pisa. Es ändert sich nichts." Müller ist mit seiner Firma Core-Competence ganz vorne dran. Er ist einer der wichtigen Anbieter von Lernspielen, allerdings nicht für den Unterricht, sondern für die Weiterbildung.

Was Müller in Karlsruhe vorträgt, gehört in jede Weiterbildung für Lehrer. Ziel sei es, die Lerner zu fesseln und das Gelernte später zu verankern. Dafür eigne sich nicht die Instruktion, sondern die Konstruktion. Müller kennt das sattsam aus den rein instruktiven E-Learning-Angeboten. "So richtig Lust, die Einheiten freiwillig zu machen, hatten die Leute nicht." Müller wählt andere Methoden: positive Verstärkung, Selbermachen, Spaß. "Lassen Sie die Leute selber was erforschen - das ist immer gut", sagt er. Die Lernenden bauen sich die Sachen zusammen.

Identifikation und Ehrgeiz

Wenn die Untersuchungen stimmen, die Müller zitiert, dann muss das ein großer Erfolg sein: Bei normalen E-Learning-Angeboten klicken sich nach einer Stunde noch 2 bis 8 Prozent von Lektion zu Lektion. Bei spielorientiertem E-Learning sind es nach über zwei Stunden immer noch 60 bis 80 Prozent. Die großen Motivatoren heißen Identifikation und Ehrgeiz. Es geht von Level zu Level, das Verhältnis von Kampf und Konstruktion ist wohl dosiert. "Wir sagen bewusst nicht ,lernen', sondern ,erleben' ", sagt Müller. "Und, was sie auf keinen Fall machen dürfen: erziehen!"

Das Selbstbewusstsein von Verkäufern wie Müller ist enorm. Das hat mit der Branche zu tun. Die Gamesindustrie hat Muskeln, sie hat die Messe im Sturm erobert. Während drüben im Bildungsforum die baden-württembergischen Minister vor hereintröpfelndem Publikum sprechen, stehen sich im Games-Forum "Level up" die Zuhörer auf den Füßen. Es wird eine Leistungsshow der Branche geboten: 1,8 Milliarden Euro Umsatz hat die deutsche Spieleindustrie 2010 gemacht, doppelt so viel wie die Filmbranche.

Den Erfolg auf dem Unterhaltungsmarkt wollen die Spielehersteller und ihre Theoretiker auch auf dem Feld der Lernspiele fortsetzen. Der Verband der Computerspielindustrie, G.A.M.E, ist zugleich Partner der Mediadesign Hochschule Berlin. Im Studiengang Gamedesign wird das Herstellen von Spielen erforscht und gelehrt.

Ursprüngliches Lernen

Eine der Lehrenden am Düsseldorfer Standort ist Linda Breitlauch. Sie verrät, worin der Esprit des Spielens besteht: Es ist das ursprüngliche Lernen. "Je jünger die Kinder, desto geringer ist der Unterschied zwischen Spielen und Lernen." Breitlauch war die erste deutsche Professorin für Gamedesign. Sie zitiert Studien, nach denen Computerspielen den Intelligenzquotienten steigert. Schon Piaget habe gewusst, dass Spielen das bessere Lernen sei; das trägt Gamedesignerin Linda Breitlauch öfter vor.

Der berühmte Entwicklungspsychologe Jean Piaget setzte sich zwar intensiv mit dem Spielen auseinander – aber er spielte nicht am Computer. Als Piaget 1980 starb, steckten die aufwendig animierten Games in den Kinderschuhen. Und keiner trug sie allzeit bereit in der Hosentasche mit sich herum. Piaget dachte auch gar nicht an computer game, als er vom Spielen sprach, sondern an play. Das ist der große Unterschied: play ist das freie Spiel, games hingegen sind die Regelspiele. Eine Unterscheidung, die Linda Breitlauch nicht benutzt.

Aber es ist nicht das, was Birgit Roth, die Geschäftsführerin des Lobbyverbandes G.A.M.E., bekümmert. "Nicht jedes Kind kann jedes Spiel spielen", seufzt sie. Will sagen: Der Ruf der Spiele ist schlecht. Vor allem der der Egoshooter, wo man den nächsten Level nur erreicht, wenn man immer mehr Leute umlegt.

"Wir versuchen, viele Jugendschutzmaßnahmen umzusetzen, aber wir wollen auch über die 98,6 Prozent der normal spielenden Jugendlichen reden", sagt Roth trotzig. Sie spielt damit auf eine Studie des Hamburger Bredow-Instituts an. Dabei kam heraus: Nur 1,4 Prozent der jugendlichen Spieler gelten als gefährdet oder abhängig.

Nachfragen nicht gern gesehen

Freilich sind Nachfragen in dieser Richtung im Forum "level up" nicht gern gesehen. Es gibt eine eigene Vortragsreihe darüber, ob Computerspiele irgendwie gefährlich sein könnten. Alle Referenten weisen das pauschal zurück. Studien, die einen Zusammenhang zwischen Computerspielen und Gewalt hergestellt hätten, seien nicht haltbar. So sagt es stilbildend Sebastian Felzmann, Doktorand der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. In einer Metastudie will er Fallzahlen und Validität der Thesen geprüft haben. Seine Studie zeigt er nicht. Gibt es sie überhaupt?

Aber was ist Realität und was Fiktion im Computerspiel?

Ding Hong ist die reale Figur im virtuellen Spiel der Kanzlei Hothoff Buruma. In dem Game trägt er einen maoistischen Revolutionskittel. Einen Kittel, so sagt es der Referent des Spieleherstellers Apunto, "den in China heute natürlich kein Mensch mehr anhat".

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