Von wegen Inklusion: Einmal Werkstatt, immer Werkstatt

Werkstätten für Behinderte gelten als geschlossenes System. Selten gelingt es den dort Beschäftigten, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden.

Bei der Arbeit: Katja Fessler, Thomas Scheinpflug und Annika Hollmann. Bild: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Plastik-Öse in die Schweißpresse einlegen, das passende Loch im Kunststoff darüber ausrichten, Fußhebel betätigen, warten, bis die rote Lampe erlischt, Presse zusammendrücken - stolz zeigt Franzi die festgeschweißte Öse. Wieder einen Schritt geschafft. Knapp zehn Arbeitsschritte brauchen sie und ihre KollegInnen in Hamburg-Harburg bis so eine Schürze fertig ist. Eine echte Guttasyn-Kunststoff-Schürze, wie beispielsweise Schlachter sie tragen. Sie ist eine Eigenmarke der Elbe-Werkstätten, 85.000 Stück wurden dieses Jahr bereits verkauft, das ist Rekord, da gibt es nichts zu klagen.

Anton Senner, seit Oktober Geschäftsführer der Hamburger Elbe-Werkstätten für behinderte Menschen, wird nicht müde zu betonen, dass die Zeit des Bastelns längst vorüber ist. In den sechs Betriebsstätten in Altona, Bergedorf und Harburg nähen Frauen Schutzhüllen für Möbeltransporte, in der Tischlerei werden Schränke für Hamburger Schulen gebaut. Wenn mal nichts zu tun ist, verpackt man Designprodukte des Hamburger Unternehmens Dekoop. Das ist ein Stammkunde, da kann auf Lager produziert werden.

Trotzdem: Die Werkstatt hat Schwierigkeiten, ihren Eigenanspruch auf Wirtschaftlichkeit einzulösen. Betrachtet man die Produktionszahlen im Verhältnis zum Aufwand, wird klar, was das Problem ist: Damit täglich rund 400 Guttasyn-Schürzen produziert werden können, arbeiten dort 40 Personen, dazu kommen drei Betreuer, eine Gruppenkoordinatorin, ein Vertriebsleiter und ein bis zwei Praktikanten oder FSJ-Stellen. "Normalerweise könnte man die gleiche Menge mit einem Viertel der Beschäftigten herstellen", sagt Ulf Lübben-Lorenz, Produktionsleiter mehrerer Betriebsstätten in Harburg.

Aus vieren wird eine

Ende August 2011 lautete die Konsequenz schließlich: Es muss gespart werden. Die zuvor unabhängigen Winterhuder Werkstätten, die Hamburger Werkstatt und die Elbe-Werkstatt fusionierten zu den Elbe-Werkstätten. Was schon in den 90er-Jahren die Qualität steigern sollte, wurde letztlich aus Kostengründen umgesetzt. "Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Produktionsstätten war nicht wirtschaftlich", sagt Senner. "Die Stadt gibt viel Geld aus, während die Zahl der Beschäftigten steigt." Unter dem damaligen Geschäftsführer Detlef Scheele, heute Hamburgs SPD-Arbeitssenator, wurden Führungskräfte entlassen und die Verwaltung unter ein Dach gebracht, Arbeitsgruppen vergrößert statt verkleinert.

Wenn es nach Jürgen Homann ginge, müssten die Werkstätten nicht kostengünstiger werden, sondern schlicht verschwinden. Allerdings nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen. Homann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Disability Studies der Universität Hamburg, kurz Zedis. "Solange es diese Einrichtungen gibt", sagt Homann, "bedeutet dies für die Betroffenen: Wer einmal drin ist, kommt in der Regel nicht wieder raus." Das stehe im Widerspruch zur Forderung nach Teilhabe von behinderten Menschen an der Gesellschaft und dem Arbeitsleben, die in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Auch dem Sozialgesetzbuch nach sind Werkstattträger dazu verpflichtet, den "Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt mit geeigneten Maßnahmen zu fördern".

Dass Übergänge in sozialversicherungspflichtige Anstellungen die Ausnahme sind, gesteht Anton Senner ein: "Die meisten Betriebe stellen aus zwei Gründen keine Menschen mit Behinderung ein: zum einen wegen des Kündigungsschutzes, zum anderen, weil sie Angst haben, nicht adäquat mit den Menschen umgehen zu können", sagt er. Es gebe in Hamburg derzeit etwa 550 Personen, die in sogenannten Außenarbeitsgruppen arbeiten, was im bundesweiten Vergleich viel sei. Sie arbeiten dort in verschiedenen Betrieben außerhalb der Werkstatt, beispielsweise bei Ikea, werden dabei aber weiterhin von der Werkstatt betreut und entlohnt. Dass aus einer Außenarbeitsgruppe mal jemand in einen regulären, sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz übernommen wird, komme so gut wie nie vor.

Fernab vom Tariflohn

"Die Bezahlung ist ein riesengroßes Problem", sagt Martin Eckert, Geschäftsführer des Elternvereins "Leben mit Behinderung". Statt eines tariflichen Lohns bekommen Werkstattbeschäftigte einen Grundbetrag, ein Arbeitsförderungsgeld und einen individuellen Steigerungsbetrag. Die durchschnittliche Gesamtsumme bei den Elbe-Werkstätten kommt nahe an den bundesweiten Durchschnitt heran, sie liegt bei 157,50 Euro - im Monat.

"Das steht oft aber gar nicht zusätzlich zur Verfügung", so Eckert. Weil die meisten Beschäftigten gleichzeitig Sozialhilfeempfänger sind, wird der Betrag lediglich gegengerechnet und nicht ausgezahlt. Auf die alte Forderung, die Leistung von Behinderten nicht mehr auf die Sozialhilfe anzurechnen, würden Politiker bundesweit mit wenig Interesse reagieren: "Das kostet eben Geld", sagt Eckert.

Die Stadt Hamburg will das Wachstum der Werkstätten nun dennoch bremsen. Die Arbeitsbehörde unter Senator Scheele plant deshalb, zum Sommer 2012 einen Lohnkostenzuschuss einzuführen. Mit dem sogenannten "Hamburger Budget für Arbeit" sollen bis 2013 mindestens 100 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze nach Tariflohn für zuvor in den Werkstätten Beschäftigte entstehen, getragen von Geldern der Eingliederungshilfe, die bislang Werkstattplätze finanziert.

Die Werkstatt als Ausgrenzungsfalle ist ein einhelliges Bild, das bei den Darstellungen verschiedener Behindertenverbände, der Wissenschaft und bei WerkstattmitarbeiterInnen selbst immer wieder aufkommt. Es stellt sich die Frage, warum dort überhaupt noch Menschen arbeiten, warum es sogar immer mehr werden. "Mir persönlich sind keine von Behinderung betroffenen Menschen bekannt, die Werkstätten positiv bewerten oder sich gar wünschen würden, dort zu arbeiten", sagt Jürgen Homann vom Zedis.

Mehr als einmal wird der Vorwurf laut, man mache es sich mit den Werkstätten zu einfach. "Die Arbeitsagenturen sagen sich: ,Lassen wir die in eine Werkstatt gehen, dann brauchen wir uns nicht mehr drum zu kümmern'", meint Johannes Köhn von der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen. Wichtiger noch: "Aus Angst verhindern Eltern, dass der Wille ihrer schon erwachsenen Kinder umgesetzt wird", sagt Köhn. "Diese Überbehütung führt manchmal bis zur Entmündigung." Für Homann sind die Werkstätten daher nur Teil des Problems. Es bedürfe "einer grundlegend veränderten gesellschaftlichen, sozialpolitischen und gesetzgeberischen Sichtweise auf das Phänomen Behinderung".

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