Ganztags-"Schule": Das geteilte Klassenzimmer

Hamburg plant eine flächendeckende Nachmittagsbetreuung an Grundschulen - notfalls auch im Klassenzimmer. Ein Besuch an zwei Modell-Standorten.

Betreuung für alle: Mittagessen in der Grundschule. Bild: dpa

HAMBURG taz | Ein Mädchen mit Zöpfen weint. Gleich ist Vorspiel für die Eltern, und sie hat ihre Flöte vergessen. Erzieherin Gaby Niemann tröstet das Kind, sucht nach der Handynummer der Mutter, damit die das Instrument zum Tag der offenen Tür mitbringt. Wir stehen im Flur im zweiten Stock der Grundschule Schimmelmannstraße in Hamburg-Marienthal, einem Stadtteil mit viel Grün und Einfamilienhäusern. Die Schule ist eine von 28, die bereits "Ganztägige Bildung und Betreuung" (GBS) in Kooperation mit einer Kita anbietet, wie es sie bald in der ganzen Stadt geben soll.

Niemann steht an einem kleinen Tresen, sie ist "Etagenerzieherin" und wacht in der Zeit von 13 bis 16 Uhr mit Handy und einer Liste über An- und Abwesenheit von über 60 Kindern. Auch im ersten Stock und im Erdgeschoss gibt es solche Tresen mit je einem Kollegen. Alle volle Stunde sammeln sich die Kinder hier und sprechen ab, was sie als nächstes tun.

"Wir müsse uns nach innen strikt organisieren, damit wir nach außen flexibel sein können", erklärt GBS-Leiter Andreas Pietsch. Um 14, um 15 und um 16 Uhr, zu jeder vollen Stunde ist Abholzeit, weil die Eltern das so wollen. "GBS ist hier auf Druck der Eltern entstanden", sagt Schulleiter Sascha Luhn.

Seit in Hamburg 2004 das Kita-Gutschein-System eingeführt wurde, war für berufstätige Müttern eine Betreuung ihrer Kinder von der Geburt an garantiert. Die Kinder dieser Generation, die nicht den Beruf aufgibt, kommen jetzt in die Schulen, in denen das Angebot fehlt. In Marienthal revoltierte im Vorjahr eine Gruppe von 23 Eltern. Sie wollten ihre Kinder nur an Luhns Schule geben, wenn dort eine Betreuung eingerichtet wird. Inzwischen sind fast 200 der 350 Schüler in der GBS angemeldet. "Die Eltern rennen uns die Bude ein", sagt GBS-Leiter Pietsch.

Ganztägige Betreuung und Bildung an Schulen (GBS) soll bis zum Schuljahr 2013/14 in Hamburg flächendeckend eingeführt werden. So sollen rund 40.000 Kinder am Nachmittag betreut werden.

Das Angebot ist freiwillig und in der Kernzeit von 13 bis 16 Uhr kostenlos. Das Mittagsessen und die Rand- und Ferienzeiten kostet Geld. Die Schulbehörde arbeitet an einer sozial gestaffelten Gebührentabelle, die im März fertig sein soll.

Kritik gibt es, weil die alten Horte aufgelöst werden. Der GBS-Personalschlüssel ist mit einem Erzieher für 23 Kinder deutlich schlechter. Zusätzlich gibt es 7.500 Euro pro Gruppe für Honorarkräfte.

Das Angebot wirkt spartanisch. Mittags essen die Kinder in einem roten Container-Gebäude. Im Ruheraum gibt es kein Spielzeug, nur eine Kiste mit tausend Holzsteinen, die der Elternrat spendete. Hausaufgaben und Interessengruppen finden in den Klassenzimmern statt. Es gibt acht Kurse, von Kochen bis zum Dinosaurier-Kurs, die von Honorarkräften geleitet werden. Pietsch und seine neun Erzieher beaufsichtigen das Ganze im Hintergrund.

"Am Anfang hatte jedes Kind täglich seinen Kurs", sagt GBS-Leiter Pietsch. Aber die Kinder wollten einfach nur spielen. "Das was früher die Straße war, ist heute die GBS." Auch jetzt toben sie durch die Räume oder putzen beflissen für den Tag der offenen Tür. Drei Jungs sprechen Pietsch auf der Treppe an: "Trommeln wir nachher?"

Wenn er ehrlich sei, sagt Pietsch, sei die Kapazität erschöpft. Manche Lehrer mögen die Doppelnutzung der Klassenzimmer - vormittags Schule, nachmittags Betreuung - nicht und sind in benachbarte Pavillons gezogen. Es gibt Reibereien, einmal in der Woche wird im Beisein eines Profi-Moderators über Strittiges verhandelt. Zum Beispiel die Hausaufgaben. Er frage sich, sagt GBS-Leiter Pietsch, warum Kinder nicht Gruppenaufgaben bekommen oder ermuntert werden, sich gegenseitig zu helfen: "Die Viertklässler brennen darauf, mit den Kleinen zu rechnen."

An der Schule Am Schleemer Park im ärmeren Hamburger Stadtteil Billstedt ist gerade die Essenszeit vorbei. Ein Junge sitzt noch am Tisch und kaut Nudeln mit Gemüse. "Was machst du hier?", fragt die achtjährige Rodali. "Ich gucke mir eure Schule an, weil ihr jetzt doch auch am Nachmittag hier seid." Das Mädchen wundert sich. "Wir haben jetzt keine Schule." GBS-Leiterin Astrid Kasperczyk freut sich später über den Dialog: "Die Kinder sehen GBS nicht als Schule."

Kasperczyk leitet seit 30 Jahren die benachbarte Kita Druckerstraße und hat dort die Kehrseite des Gutscheinsystems miterlebt. Kinder von Hartz-IV-Empfängern, von denen es viele in Viertel gibt, durften am Nachmittag nicht in die Kita. "Das tat mir in der Seele weh."

Die GBS ist die Chance, das zu ändern. Statt 60 Kindern im Hort werden 140 in den Schulräumen betreut. Weil die Schule einen niedrigen Sozialindex hat, hat sie einen etwas besseren Personalschlüssel und ist anders organisiert. Je 19 Kinder sind in einer Gruppe, in der ein Erzieher für sie da ist. Und jedes Kind hat einen individuellen Wochenplan. Manche essen vor der Sprachförderung, andere danach, dann geht es zum Tanzen oder zu Badminton, das zwei ältere Herrn vom Turnverein Gut Heil Billstedt anbieten. Die wenigsten gehen vor 16 Uhr.

Die Doppelnutzung von Räumen, vormittags Schule, nachmittags GBS, sei schwierig, sagt Kasperczyk. Zum Glück sei sie in der Schule Am Schleemer Park nur in zwei Klassen nötig. Die übrigen GBS-Gruppen haben eigene Zimmer, die die Kinder gerne annehmen. Im Souterrain gibt es sogar eine Hochebene zum Verstecken.

Was ihm auf der Seele liege, sei die Ferienbetreuung, sagt Schulleiter Jürgen Tiburtius. 30 Euro die Woche kostet sie in Billstedt - genauso viel wie in Marienthal. Doch da das in Billstedt zu teuer sei, blieben die Kinder zuhause, "gucken in der Zeit viel fern und erleben wenig". Man brauche Ferienbetreuung aus pädagogischen Gründen, sagt Tiburtius: "Aber das wird politisch überhört."

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