Musikmarkt im Netz: Alles Populäre ist falsch

Musiksoftware und Web 2.0 versprachen einen Zugang zum Musikmarkt für alle. Das Versprechen wurde gehalten – mit unerwarteten Auswirkungen für Markt und Musiker.

Der technologische Fortschritt schuf neue Stile, hat aber die Produzenten auch enteignet. Bild: didschie / photocase.com

Studiozeit und Vertrieb waren früher so teuer, dass ausschließlich Großunternehmen sie finanzieren konnten. Dank dieser wirtschaftlichen Hürde konnten bis tief in die 1980er Jahre ein paar hundert Künstler ein Millionenpublikum erreichen, da ihre einmal hergestellten Aufnahmen mangels nachrückender Konkurrenz am Markt lange Zeit hatten, um Hörer zu begeistern.

Mitte der 1980er ermöglichten diverse Neuerungen von der Vierspurtechnik bis zum Sampler nicht nur neue Musikstile, sondern verbilligten auch den Zugang. Die "Indies" waren geboren. Von finnischem Tango bis zu Death Metal konnten auch kleinste Fangemeinden durch einen weltumspannenden Vertrieb plötzlich so eingebunden werden, dass Künstler und Umfeld sich professionalisieren – sprich, davon leben konnten. Diese Wende hin zum größeren Wettbewerb auf einem unabhängigen Markt ermöglichte Musikern fast schon paradiesische Arbeitsbedingungen im Komfort profitabler Nischen.

Als aber irgendwann Ende der 1990er eine komplette Produktion mit einem Aldi-PC gefahren werden konnte und zum Vertrieb das Hochladen einer MP3 reichte, änderte sich alles. Mit Produktionskosten nahe null erreichte nun jede Veröffentlichung totale Verfügbarkeit. Schlagworte wie "Demokratisierung" und "Long Tail" machten die Runde. Der Kater kam pünktlich am Morgen danach.

Statt einer Ära grenzenloser Kreativität der Massen entstand ein Vertriebsmodell, das so ineffizient war wie keines zuvor: Was lade ich mir auf den Rechner, wenn sich fünf Milliarden Dateien anbieten? Es wurde einfach übersehen, dass tatsächliche Verbreitung auf eine beschränkte Ressource angewiesen ist: Aufmerksamkeit. Die mentale "Regalfläche" ist knapp – analog zum alten Handelsmodell, in dem nur eine Auswahl Tonträger auf die Regale passt, kann sich niemand durch mehr als einen Bruchteil des Angebots arbeiten. Der Long Tail wird durch die verfügbare Aufmerksamkeit an der Wurzel abgeschnitten. Man konzentriert sich auf ein paar Superstars, das Mittelfeld versinkt nun im Rauschen des Überangebotes.

Den Majors, den vermeintlichen Dinosauriern der Musikwirtschaft, kam das sehr entgegen. Umsatzstarke Künstler werden nun unter Einschluss der gewinnträchtigen Auftritte, Verlagsrechte und Fan-Artikel vermarktet. Die großen Summen in den Bereichen Konzert, Werbung und Film gehen dadurch nach wie vor an die Majors und daran ändert bisher keine vermeintliche "Demokratisierung" etwas.

Neue Konkurrenz

Absurderweise hat der Wegfall jeglicher Hürden zum Musikvertrieb hingegen vor allem unabhängigen Plattenfirmen den Garaus gemacht. Die Konkurrenzflut macht es ihnen mit ihren beschränkten Werbebudgets in weiten Teilen bislang unmöglich, am Markt zu bestehen. Es folgte der Entzug des Grundeinkommens der Künstler und des Umfeldes: Toningenieure, Produzenten, Gestalter usw. Deren Leistungen fallen nun weg.

Mit immer niedrigeren Tonträgerumsätzen sind Kosten wie eine größere Produktion oder ein aufwendiges Cover nur Vertiefung des materiellen Schadens. Die Flucht in den rein digitalen Vertrieb sieht nicht anders aus: Nur etablierte Künstler erzielen regelmäßig hohe digitale Umsätze - mit einem entsprechend starken physikalischen Tonträger in der Hinterhand. Alles andere bleibt in der überwältigenden Mehrheit ungehört.

Jetzt bemühen sich ein paar Millionen Künstler um jeweils ein paar hundert Kunden. Eine schwierige Relation. "In the future everyone will be world-famous for 15 people."

Das Ergebnis ist die weitgehende Entprofessionalisierung. Was vorher hauptberufliche Enthusiasten erledigten, gerät immer mehr zum Aufgabenfeld des Künstlers selbst. Dieser ist jetzt Gestalter, Werber, Manager und Vertrieb – alles Zeit und Aufmerksamkeit, die der Musik fehlen. Generiert der Künstler regelmäßig nur Verluste, geht ihm die Luft aus. Musiker wird damit vorrangig zu einem Beruf für Erbreiche und merkantil Clevere. Mit Qualität oder Überzeugungskraft der Musik hat das wenig zu tun. Zugleich führt die Desillusionierung der Künstler zu immer banaleren Ergebnissen – wozu sich noch Mühe machen?

Diese Propaganda, dass Musik in Zukunft verschenkt wird, um von den Auftritten zu leben, ist von der Realität definitiv entkräftet worden – weil alle das praktisch schon tun und trotzdem keine Auftritte kriegen. Alle glaubten, Zugang zu haben. Nur ist dieser Zugang für sich genommen nichts mehr wert, weil er an keinem Punkt zu etwas führt.

Niemand interessiert sich für die Veröffentlichung von DJ X aus Z. Entsprechend gibt es keinen Grund, ihm einen Auftritt zu vergüten. Bei gefühlten 50.000 DJs allein in Berlin spielt notfalls auch jemand umsonst. Mit ihren Auftritten können die DJs ja ihre Platten bewerben. Und in Kleinstadt Z darf man gratis üben, um es vielleicht mal in Berlin zu schaffen. Da schließt sich der Kreis der Unmöglichkeit.

Gebucht wird nur, wer bekannt ist. Im Internet hält Bekanntheit bis zum nächsten Eintrag. Und in der Presse werden über Jahre hinweg fast nur Künstler begleitet, die vor der totalen Flut ihre Karriere starten konnten. Oder diejenigen, die nachhaltig fünfstellige Werbebudgets aufbringen können. Alle anderen kriegen bestenfalls drei Monate geballten Hype. Danach ist Schluss. Noch nie war die Halbwertszeit einer Musikerlaufbahn potenziell so kurz. Ein Ausflug zwischen Schule und irgendeinem regulären Job.

Die Fans der Piratenpartei

Der Rückschluss, dass Musik nun wieder ein durch einen "Dayjob" zu finanzierendes Hobby sei, ist unbefriedigend. Wer acht Stunden oder mehr täglich damit befasst ist, seinen Unterhalt zu bestreiten, dem fehlen Zeit und Muße zur notwendigen künstlerischen Vertiefung. Da entsteht auf Dauer nichts, was länger als zwei Wochen interessant bleibt. Ebenso verflachen zwangsläufig die Musiker, die allein auf Auftritte bauen, so sie diese haben. Wer drei Nächte in der Woche auf Tour ist, produziert nur noch formelhafte Wiederholungen und bringt sich damit selber um die Relevanz. Der ökonomische Zwang für die Künstler schlägt so gesellschaftlich als ästhetischer Verlust und Erlebnisdefizit durch.

Die Verheißungen des Web 2.0 waren für fast alle Beteiligten eine Seifenblase. Die größten Fans der Piratenpartei bleiben die Aktionäre des Nasdaq 100. In deren Renditen finden sich die Gelder wieder, die früher bei Musikern und ihrer Umgebung landeten. Was auch genug über die andere Seite der "Demokratisierung" sagt - der einzelne Mensch hat keinen Gewinn. Er bezahlt Google, Apple, Beatport und so weiter mit dem Verlorensein in einer Flut der Irrelevanz, mit sich nicht mehr einstellender Begeisterung und mit dem unguten Gefühl, dass andere schon mal mehr Spaß hatten.

Die allgemeine Demotivation führt im Ergebnis nicht nur zu Mangelleistungen der Musiker, sondern auch zum Verdruss aller anderen. Ein frustrierter DJ legt öde Musik vor gelangweilten Leuten auf. Das ist in etwa das durchschnittliche Event da draußen. Alle machen dasselbe, weil sie Angst davor haben, bei der geringsten Abweichung auch noch die restlichen Hörer zu vergraulen. Und die verharren nur aus Mangel an Alternativen.

Werdegang: geboren 1978 in Ostberlin. Studium der Rechtswissenschaften (Schwerpunkt Urheberrechte) FU Berlin, Studium der Akustischen Kommunikation, TU Berlin.

Macro: betreibt die Plattenfirma Macro Records, wo er 2009 unter anderem einen Remix von Strawinskys "Le Sacre de Printemps" veröffentlichte.

Micro: arbeitet als DJ, Produzent und Komponist und veröffentlicht eigene Tracks auf Macro, Mule Musiq, Innervisions.

Und genau da wird es wieder interessant. Weil nichts sicheren Erfolg verspricht, kann man nun endgültig alle Rücksichten auf das Übliche fallen lassen. Da alle nur einen Mindeststandard halten, muss man einfach die größte Abweichung vom Durchschnitt suchen. Nur so kann man aus dem allgemeinen Nichts noch irgendwie herausstechen. Wenn man das erkannt hat, ist die Masse nicht mehr ganz so bedrohlich, weil sie sich selbst aufhebt. Das liegt an der benannten Aufmerksamkeitsbegrenzung. Dieser sozialpsychologische Superstar-Effekt lässt nicht zu, dass pro Kategorie mehr als eine Handvoll Künstler überhaupt wahrgenommen werden.

Erfolg ist in einer neuen Kategorie, in der man der Erste sein kann, wahrscheinlicher als in einer bereits übervölkerten. Die Konkurrenz um die vermeintlich populären Dinge ist am größten und somit der Erfolg am unwahrscheinlichsten. Wir beobachten daher gerade das Entstehen einer Kulturlandschaft, in der immer mehr kleiner werdende Teiche nur noch von je einem großen Fisch bewohnt werden. Es ist genau genommen wieder einfacher geworden, solange man nach der Maxime handelt: "Alles Populäre ist falsch."

Es ist nicht so, dass der Musik insgesamt das Geld fehlt. Wer sich hinreichend abhebt, langfristig nachlegen kann und die Mittel aufbringt, um die Ignoranzschwelle zu überwinden, hat ein interessantes und reich belohntes Berufsleben vor sich. Alle anderen haben eigentlich keine Chance, jemals gehört zu werden. Ihre Arbeit geht im Rauschen des Netzes unter. Parallele Monokulturen, dominiert von ihren Schöpfern und befeuert von ihren perspektivlosen Nachahmern. Eine Vielfalt der Kategorien auf Kosten der Feinheiten innerhalb der Kategorien.

Auch die Verfügbarkeit als Ideologie hat wohl ausgedient. Wer bereits Erfolg und wirklich noch etwas zu vermitteln hat, kann sich aus der Verfügbarkeit zurückziehen. Wozu Files verbreiten? Für wen soll das einen Wert haben? Man stelle sich einen großartigen Track vor, dessen Tonträger ein Unikat ist. Oder der Rückfall ins Mittelalter - Musik nur noch in Anwesenheit des Künstlers. Live. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag, es wird für alle erst wieder interessant, wenn man weiß: Ich bin gerade bei etwas Besonderem dabei. Wie sich dieses Gefühl einstellt, ist die Aufgabe der Kreativen, wenn sie diesen Namen verdient haben.

Der ursprüngliche Text erschien auf www.stefangoldmann.com

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