Historiker Christian Gerlach über Völkermord: "Die Regierung zu stürzen reicht nicht"

Der Historiker Christian Gerlach hat extrem gewalttätige Gesellschaften untersucht. Sein Ergebnis: Auch die Zivilbevölkerung kann Auslöser von Massengewalt sein.

Auftaktsitzung der Nürnberger Prozesse 1945: "Die haben nicht abgeschreckt." Bild: dpa

taz: Völkermorde wurden bisher vor allem als eine Folge staatlichem Handels betrachtet. Sie stellen dagegen soziale und gesellschaftliche Aspekte in den Mittelpunkt. Welche Rolle spielen diese Aspekte?

Christian Gerlach: Nach meiner Ansicht gibt es einerseits eine wichtige Rolle des Staatsapparats und ihrer Beamten und Staatsdienern. Es existiert aber eben auch eine wichtige und in der Forschung bisher unterschätzte Rolle von verschiedenen Gruppen aus der Zivilbevölkerung aus verschiedenen Interessen heraus, die durchaus von den staatlichen Interessen abweichen können und die ich als konstitutiv für das Zustandekommen von Massengewalt betrachte.

Das können Partikularinteressen sein, die nicht unbedingt den Interessen des Staates entsprechen?

CHRISTIAN GERLACH, Jahrgang 1963, ist Professor für Zeitgeschichte in globaler Perspektive an der Universität Bern, Schweiz. Seine Studie über die Vernichtungspolitik der Besatzungstruppen Nazi-Deutschlands im besetzten Weißrussland während des Zweiten Weltkriegs ("Kalkulierte Morde", Hamburg 1999) gilt als wegweisend.

Das Buch: "Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert". 576 Seiten. DVA, München 2011, 39,99 Euro.

Genau. Aber oft finden sich partielle Übereinstimmungen. Das versuche ich in meinem Buch anhand der Massenmorde in Indonesien in den 1960er Jahren zu zeigen. Da bildete sich etwas, was ich eine zwar kurzfristige, aber sehr mächtige und brutale Koalition für Gewalt nenne. Eine Koalition aus den Vertretern verschiedener Parteien und Massenorganistationen, vor allem mit Teilen der indonesischen Armee verbündet und zunehmend Teilen des Staatsapparates. Diese Koalition reichte von nationalistischen Militärs über Islamisten, moderate nationalistische Muslime bis hin zu Sozialdemokraten und Trotzkisten.

Ihre Studie ist global angelegt. Sie untersuchen historische Ereignisse über Indonesien, Armenien und das nationalsozialistische Deutschland bis nach Bangladesch. Existieren tatsächlich weltweit wiederkehrende Charakteristika extrem gewalttätiger Gesellschaften? Sind es nicht primär europäische Sichtweisen, die zu Massengewalt führen?

Gewalt entsteht auch aus gewissen Auswirkungen kolonialer Herrschaft. Es gibt ja auch in der konventionellen Genozid-Forschung die These, dass die Ursprünge des Völkermords im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts zu suchen sind. Aber es existieren auch starke autochthone Entwicklungen, die nicht nur auf den Kolonialismus zurückgeführt werden können. Deshalb handelt es sich nicht nur um Spätfolgen des Kolonialismus.

Sie verwenden den Begriff der partizipatorischen Gewalt für eine Kombination aus staatlichem und gesellschaftlichem Interessen für Massengewalt. Welche Rolle spielt dabei der Staat? Ist er der große Manipulator? Verselbstständigt sich Massengewalt bisweilen gegen die ursprünglichen Absichten des Staates?

In Indonesien geht es um Verfolgung und Ermordung von mindestens einer halben Million Menschen in den Jahren 1965/66 nach einem Putschversuch durch linksgerichtete Offiziere, der damals sehr großen kommunistischen Partei Indonesiens zur Last gelegt wurde. Einerseits spielte da die Armee eine starke Rolle, die durch Propaganda, Befehle und auch durch Mordeinheiten Massenmorde mit organisiert und durchgeführt hat. Aber schon von der Armee als solcher kann man gar nicht sprechen, weil es illoyale Einheiten gab, die das nicht unterstützten und in Einzelfällen sogar mit Einheiten, die Massaker verübten, in Konflikt gerieten. Es gab Militäroffiziere, die abgesetzt wurden. Das gilt auch für den restlichen Staatsapparat. Der Präsident Indonesiens, Sukarno, versuchte, die Massenmorde zu verhindern, der Außenminister und manche Provinzgouverneure desgleichen. Es gab auch nichtstaatliche Akteure, die sich bemüht haben, die Massenmorde zu verhindern, etwa religiöse Würdenträger. Daneben haben vielerorts religiöse, Partei- und Jugendgruppierungen sowie Mobs Menschen massakriert. Der Staat, das sieht man an diesem Beispiel, ist nur ein Akteur beim Zustandekommen von Gewalt. Und der Staat ist kein Monolith. Es gibt kein einheitliches staatliches Handeln. Es gibt quer durch den Staat und quer durch das Militär zum Teil gewaltsame Auseinandersetzungen darüber, ob diese Maßnahmen durchgeführt werden sollen. Insofern sollte man nicht sagen, der Staat sei an all dem allein schuldig gewesen.

Sie wenden sich dagegen, Täter zu Bestien zu erklären. Aber jeder Täter hat doch die individuelle Entscheidungsmöglichkeit, bei einem Pogrom mitzumachen oder nicht. Heißt das, dass wir nicht mehr nach Tätern suchen sollten sondern nach gesellschaftlichen Motiven? Und was bedeutet das für die Strafverfolgung?

Ich versuche von dem Täter- und Schuldbegriff wegzukommen und mehr zu Verantwortlichkeiten und Handlungsmöglichkeiten hin. Damit möchte ich auch das Abwälzen von Verantwortung nur auf einige sichtbare Täter vermeiden. Es geht um eine weitgehende, schon individuell festzumachende aber gesellschaftlichen Gruppen zuzuschreibende Motivation. Bestien entscheiden nichts, denn sie morden einfach so. Wie Yehuda Bauer einmal zum Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag gesagt hat: Die Täter waren Menschen. Wenn wir sie als Bestien betrachten, dann können wir ihre Handlungsweise nicht erklären. Nach dem Hitler-Film mit Bruno Ganz in der Hauptrolle haben sich beispielsweise viele Zuschauer beschwert, Hitler sei zu menschlich dargestellt. Aber mit der Kollegin Marina Cattaruzza würde ich hierzu sagen: Hitler war ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Entscheidungen und auch mit einer Art Moral, auch wenn wir diese ablehnen und als verbrecherisch betrachten.

Wenn Sie mit Ihrem Buch recht haben, geht es bei der Frage der Prävention künftig nicht mehr darum, ein Staatswesen so zu verändern, dass es weniger Gewalt ausübt, sondern darum, gesellschaftliche Zustände insgesamt zu verändern.

Ja. Es reicht nicht einfach aus, eine Regierung zu stürzen. Es gibt aber noch eine weitere Konsequenz: Die ausländischen Einwirkungsmöglichkeiten sind nach meiner Ansicht kleiner als man denkt. Wenn die Verantwortung für Gewalt in vielfältigen gesellschaftlichen Interessen verwurzelt ist, dann müsste man das ja auch von außen zu steuern versuchen. Wenn es viele Gruppen, auch zivilgesellschaftliche Akteure gibt, die ohne staatliche Steuerung handeln und die sich an Massengewalt beteiligen, dann sind die von außen noch schwerer zu steuern als ein zentraler Staatsapparat. Das bedeutet: Prävention muss vor allem aus dem Inneren eines Landes kommen.

Es wird als großer Erfolg betrachtet, dass internationale Strafgerichtshöfe etwa in Rom oder Den Haag gegen die Verantwortlichen von Massengewalt vorgehen. Aber da kann man natürlich nur Straftäter und keine gesellschaftliche Gruppe verfolgen. Sind diese Hoffnungen, durch solche Verfahren Täter abzuschrecken, übertrieben?

Es hat schon die Nürnberger und Tokioter Prozesse und ihre Nachfolgeverfahren gegeben. Die haben nach 1945 auch nicht abgeschreckt. Ich glaube, es gibt keine empirische Untersuchung darüber, ob es tatsächlich einen Abschreckungseffekt gibt. Ja, es gibt Historiker, die argumentieren, dass auswärtige Interventionen oder Strafandrohungen bestimmte Massenmorde sogar intensiviert oder beschleunigt haben. Solche Diskussionen existieren etwa für den Fall Ruanda oder für die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich. Denn die verfolgten Gruppen wurden im eigenen Land so dargestellt, als seien sie mit ausländischen Interessen verbunden. Was den internationalen Gerichtshof angeht: Das scheint mir noch eine relativ selektive Verfolgung zu sein. Ich werde meine Meinung ändern, wenn George W. Bush vor Gericht steht.

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