Tunesien nach dem Umsturz: Das Ende der Heimlichtuerei

Auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis begegnet einem die neu entstehende tunesische Demokratie. Hier lebt vor allem eine neue Offenheit.

Viel in Bewegung: Avenue Habib Bourguiba in Tunis. Bild: dapd

"Es braucht viel Vorstellungskraft, um unseren Übergangsprozess weiterzudenken", sagt Amina Mahdhaoui. "An unserer Revolution ziehen viele Kräfte." Und das ist auf der Avenue Habib Bourguiba, der modernen Flanier- und aktuellen Demonstriermeile von Tunis, deutlich hörbar. Dort, wo in den Bäumen des Mittelstreifens die Vögel mit dem Verkehr um die Wette lärmen, diskutieren jetzt noch lautstärker kleine Gruppen. Hauptsächlich Männer. Um einige Bärtige vor dem mit Stacheldraht umzäunten Innenministerium hat sich ein großer Kreis gebildet.

"Man weiß nicht, was die im Innenministerium diskutieren, man ist nicht informiert, was passiert,"

"Dann schau doch ins Netz, auf Facebook."

"Da kann doch jeder hineinstellen, was er will."

"Wir dürfen keinen Keil zwischen uns treiben lassen", schafft sich ein Bärtiger Gehör.

"Wer sagt mir, dass man euch glauben kann", ruft ein anderer.

"Wenn die Bärtigen an die Macht kommen", bemerkt Amina in ihrer impulsiven Art, "dann binde ich mir einen Sprengstoffgürtel um und sprenge mich hier vor dem Innenministerium in die Luft." Die 55-jährige ehemalige Stewardess verkörpert das tunesische Frauenwunder der Ära Bourguiba: gebildet, unabhängig, selbstbewusst. Einer schwarz verschleierten Frau - in Tunis eine bislang sehr unübliche Bekleidung - zischt sie an der Ampel schon mal streitlustig zu: "Findest du nicht, dass du wie ein Monster aussiehst?"

Bärtige und Verschleierte sieht man seit Neuestem häufig im Stadtbild von Tunis, nachdem am 1. März des Verbot der islamistischen Partei Ennahda aufgehoben wurde. Die modernen Frauen von Tunis verabscheuen den frömmelnden politischen Islam. Sie fürchten unförmige Gewänder statt westlichen Chics, traditionelle Männerherrschaft, statt Selbstbestimmung. Dabei geriert sich Rachid Ghanouchi, der Führer der islamistischen Partei, in Interviews als moderner, aufgeklärter Mustermuslim: "Die Korruption lässt sich mit einer freien Presse, einer unabhängigen Justiz bekämpfen, auch mit der Religion", sagt er der nun wieder lesenswerten tunesischen Tageszeitung La Presse.

Mordauftrag von oben

Lotfi Derouiche sitzt beim Tee im maurischen Café in der Rue Sidi Ali Azouz, im touristischen Teil der Medina. Er kennt die Machenschaften Ben Alis von ihrer dunkelsten Seite. Der Polizist "aus Leidenschaft" arbeitete zuletzt als Vertreter der tunesischen Behörden für Interpol in Paris. Dort erhielt er "von ganz oben den Auftrag zum Mord an Oppositionellen", erzählt er. "Die Waffe wurde mir gleich mit überreicht. Doch das konnte ich nicht." Lotfi verweigerte sich nach eigenen Angaben dem Mordauftrag, verlor über Nacht seinen Job, kam in den Knast, wurde gefoltert. Heute klagt Lotfi wie viele andere gegen Ben Ali und für seine eigene Rehabilitierung. Und der Expolizist bleibt misstrauisch: "Die alten Seilschaften und Kräfte sind immer noch aktiv. Warum sollten sie ihre Privilegien so leicht aufgeben?"

Die Rue de Pacha, abseits des Touristenviertels in der verwinkelten Medina, ist die Straße der Fahnenschneider. Sie haben gerade Hochkonjunktur. Tunesischen Fahnen sind begehrte Revolutionsdevotionalien. Eine Gruppe Jugendlicher - ein Komitee zum Schutz des Viertels, wie es sich in allen tunesischen Stadtvierteln nach der Revolution bildete - holt in einem der Läden drei bestellte Flaggen ab. "Wir wollen die Revolution vor allen rückschrittlichen Kräften, vor Manipulation und Korruption, aber auch vor Kriminellen schützen", sagt Studentin Yakoubi Mejda.

Die öffentliche Redelust in Tunis ist nach Jahren der Heimlichtuerei auffällig. Jeder sprudelt sofort auskunftswillig los. Die Komitees aller Viertel, erzählt Yokoubi, wollten als Stimme des Volks eine Versammlung ihrer Abgesandten gründen. Auf die Frage, ob es dafür nicht den Hohen Rat zur Umsetzung der Ziele der Revolution (Haut conseil pour les objectifs de la Révolution) gebe, winkt Yakoubi ab. "Er repräsentiert nicht das ganze Volk."

"Es ist in der Tat so, dass unser Zusammenschluss nicht legitimiert ist. Er wurde nicht gewählt. Aber ich weiß nicht, wie wir diese Zeit des Übergangs meistern sollten, die machtpolitisch ein Vakuum ist", sagt die Dozentin Noura Bourzali, Mitglied des Hohen Rates, der die Übergangsregierung berät. Im Hotel El Mechtel organisiert Noura, aktive Frauenrechtlerin, gerade einen Kongress zur Parität. Die Parität von Mann und Frau auf den Wahllisten ist ein großer Erfolg des Rates. Auf dem Podium spricht gerade eine Senegalesin. "Die Senegalesen", sagt Noura, "sind in Bezug auf Parität weiter als jedes europäische Land, deshalb haben wir sie eingeladen."

Der Hohe Rat sei der Versuch, mit einem repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft den Übergang zu gestalten. Er sei ein sozialer Mikrokosmos Tunesiens, kein abgehobenes Expertengremium. "Wir sind 150 Mitglieder, und das macht die Arbeit nicht gerade leicht, aber es ist ein wirklich demokratischer Versuch. Und bei allem Triumph der Straße: Wir brauchen auch eine repräsentative Elite, die politische Grundsätze erarbeitet", verteidigt Noura den Hohen Rat.

Revolutionäre Charta

Dieser arbeitet an einer revolutionären Charta, die Gleichheit, Freiheit und Demokratie als Grundlage für die verfassunggebende Versammlung festlegt, deren Wahl nun am 23. Oktober stattfinden soll. "Ich glaube, wir können keine totale Trennung von Religion und Staat durchsetzen, aber den Artikel 1 unserer Verfassung müssen wir erhalten", sagt Noura. Dieser Artikel, 1959 von Bourguiba eingeführt, legt fest: Tunesien ist eine Republik, seine Religion ist der Islam, seine Sprache ist Arabisch. "Viele im Hohen Rat, auch die islamistische Partei, sind für diesen Kompromiss. Wichtig sind jedoch die weiteren Artikel: Nein zum Einfluss der Religion auf die Politik, Ja zur Freiheit der Religionen."

Und Noura gesteht: "Wir haben Angst vor den Wahlen." Als säkulare Vertreterin fürchtet sie nicht nur, dass die islamistische Partei zu viele Stimmen bekommen könnte, sondern vor allem die unübersichtliche politische Landschaft. Es gibt neue Parteien mit nur sieben Mitgliedern. Die Bevölkerung kennt die Parteien nicht. Und wo stecken die alten RCDler, die Parteikader Ben Alis? "Es gibt eine Partei, die sich ,Die Nation' nennt, deren Chef war vor 17 Jahren Minister unter Ben Ali. Es sieht so aus, als ob diese Partei die alten RCDler aufnimmt. Vor allem haben viele Angst davor, dass sich die RCDler mit der islamistischen Partei zusammentun", sagt Noura. Mit den in Verruf geratenen Kadern, die einst ihre Verfolgung verfügten? Unerwartete Koalitionen im neuen Tunesien.

130 Euro Mindestlohn

Das alte Haus der Gewerkschaftszentrale UGTT in der Avenue de Carthage, im hektischen Geschäftszentrum von Tunis, wirkt heruntergekommen wie die billigen Marktstände, die davor aufgebaut sind. Graue Vorhänge, bröckelnder Putz, abgewetztes Mobiliar. Abdeljelil Bedoui, Universitätsprofessor für Ökonomie, hat hier sein Büro. Er hat über die Situation der Arbeiter in der phosphatreichen Region um Sfax und Gabes geforscht. Er kennt die handfesten Ursachen der tunesischen Revolution: 270 Dinar, 130 Euro, beträgt der Mindestlohn in Tunesien. 700.000 sind arbeitslos, ungefähr 20 Prozent. Momentan steige die Zahl weiter an, vor allem unter den jungen Akademikern und in den touristischen Zentren. Man schätzt, dass es ungefähr 400.000 direkt und indirekt Beschäftigte im Tourismus gibt, die Mehrzahl Saisonarbeiter. "Wir wissen, dass wir mit dem Billigtourismus ein schlechtes touristisches Produkt haben. Die Dumpingpreise bezahlen die Tunesier", sagt Bedoui.

Um Industrie in den strukturschwachen Gegenden anzusiedeln, übernehme der Staat oft einen Teil der Löhne: Yazaki, ein japanischer Multi in Gafsa, zahle seinen Arbeitern beispielsweise 160 Dinar (80 Euro) im Monat, und der Staat gebe 80 Dinar und die Sozialversicherung dazu. "Wir wollen keine Unternehmen, die uns versklaven", sagt Bedoui, der kürzlich selbst eine Partei (Parti du travail tunisien) gegründet hat.

Er sieht die demokratische Umgestaltung als Voraussetzung für neue, gerechtere wirtschaftliche Impulse. "Die Gewerkschaft spielt gerade die Rolle des Feuerwehrmanns. Wir versuchen die sozialen Bewegungen zu besänftigen, aber wir wissen genau, dass die ökonomische Situation die große Herausforderung bleibt." Seine Vision: "Wir müssen die Regionen entwickeln, unsere Politik der Liberalisierung überprüfen, denn der private Sektor hat sich nicht als reif für eine positive Entwicklung gezeigt. Er muss gefördert werden, aber man darf ihm nicht alles überlassen."

Beim Abschied sagt Abdeljelil Bedoui, dass er die Bezeichnung "Jasminrevolution" nicht mehr hören könne. "Mit dem Begriff idealisierte damals Ben Ali seine Palastrevolte gegen den amtierenden Präsidenten Bourguiba." Aber vielleicht sei das blumige Wort gut als Marketingbegriff für den Westen. Der unterstütze Tunesien mit großen Worten und mit finanzieller Hilfe. Aber dass 25.000 Flüchtlinge zur Katastrophe in Europa stilisiert werden, das kann der Ökonomieprofesor Bedoui nicht verstehen.

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