Eine Gemeinschaftsschule für Ravensburg: Ohne Noten. Ohne Sitzenbleiben.

Ravensburg will als erste Stadt in Baden-Württemberg die Gemeinschaftsschule einführen. Sogar die CDU wird im Stadtrat dafür stimmen. Wie war das möglich?

Hier feiern sie schon gemeinsam: Ravensburger Schüler beim Rutenfest. Bild: dpa

RAVENSBURG taz | Neulich, da traf Rudolf Bosch einen Bekannten, der ihn mit den Worten begrüßte: "Ah, einer von den Rebellen." Das musste Bosch erst einmal richtig stellen. "Rebell a. D." sei er nunmehr, entgegnete Bosch. Der Rektor der Ravensburger Hauptschule Kuppelnau erzählt die Anekdote mit Genugtuung. "Ich bin jetzt ganz auf Regierungslinie", sagt Bosch, die Betonung auf "Regierung".

Vor vier Jahren wollte ihn die CDU-FDP-Landesregierung in Stuttgart aus dem Amt jagen, weil er mit anderen Rektoren das baden-württembergische Schulsystem infrage stellte. In Stuttgart kündigten sie ein weiteres "Fitnessprogramm" für Hauptschulen, da verfassten Bosch und drei weitere altgediente Hauptschulrektoren einen Brief an ihren obersten Dienstherren, den damaligen CDU-Kultusminister Helmut Rau.

Sie plädierten dafür, auf die Schulart "Hauptschule" gänzlich zu verzichten und stattdessen alle Kinder länger gemeinsam zur Schule zu schicken. Der Brief war ein Akt offener Rebellion.

Die grün-rote Landesregierung will künftig zehnjährige Gemeinschaftsschulen erlauben, wenn dies vor Ort gewollt wird – wie jetzt in Ravensburg. Die verbindliche Grundschulempfehlung für die weiterführenden Schulen soll wegfallen. Gymnasien sollen die Möglichkeit bekommen, das Abitur nicht nur nach acht, sondern auch wieder nach neun Jahren anzubieten. Ganztagsschulen sollen flächendeckend ausgebaut und dafür bis zu 1.500 Lehrer eingesetzt werden. Für zusätzliche Kinderkrippen sollen bis zu 300 Millionen Euro bereitgestellt werden; frühkindliche Bildung und Sprachförderung sollen intensiviert werden. Die Studiengebühren werden bis spätestens 2012 abgeschafft. Grün-Rot will die Grunderwerbsteuer um 1,5 Prozentpunkte anheben und diese Einnahmen in die Bildung investieren.

Am 30. Mai wird Bosch als grüner Gemeinderat im Ravensburger Rathaus die Hand heben für das Konzept einer "Inklusiven Modellschule" von Klasse eins bis zehn. Ravensburg will die erste Gemeinde sein, die einen Antrag für diese Modellschule einreicht. Vor Freiburg, Karlsruhe, Tübingen und Stuttgart. Diese Entscheidung wird wohl einstimmig fallen, mit den Stimmen der stärksten Stadtratsfraktion, der CDU.

Die neue grün-rote Landesregierung hat angekündigt, die Kommunen beim Aufbau solcher Gemeinschaftsschulen zu unterstützen. Denn diese sind grün-rote Bildungspolitik: Kinder werden nicht mehr nach Noten auf Schulformen aufgeteilt, sondern lernen bis Klasse zehn gemeinsam.

Alles anders nach 58 Jahren

Es ist ein Bruch mit 58 Jahren Schulpolitik im Südwesten. 58 Jahre lang regierte die CDU in Baden-Württemberg. 58 Jahre lang war das dreigliedrige Schulsystem Gesetz. Kommunen, die Ausnahmegenehmigungen für Gemeinschaftsschulen beantragten, erhielten aus Stuttgart routiniert Absagen: Ihr Begehr sei illegal.

Bereits 2009 hatte der Ravensburger Gemeinderat einstimmig beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die ein Konzept für eine Modellschule erarbeitet. In der ersten Sitzung nach der Landtagswahl, Mitte Mai, kamen die Schulreformer und der Gemeinderat im Ravensburger Rathaus erneut zusammen.

In dem roten Steinbau mit Staffelgiebeln trug Bosch vor, wie sich Lehrer von Ravensburger Schulen und der Pädagogischen Hochschule eine ortsansässige Modellschule ausmalen: eine Schule ohne Noten, ohne Sitzenbleiben, ohne Brüche und ohne Aufteilung. Also das genaue Gegenteil von Schule, wie sie in Baden-Württemberg seit Jahrzehnten funktioniert.

"Wir werden beäugt, das ist klar. Aber man darf nicht verhockt sein und muss auch mal was Neues probieren", sagt Ulrich Höflacher, der schulpolitische Sprecher der CDU. Er ist Studiendirektor am katholischen Privatgymnasium St. Konrad in Ravensburg. Ein Konservativer sei er. "Was taugt, das müssen wir bewahren, was wert ist, dafür müssen wir die Fahne hochhalten."

Die CDU wird mit den Grünen stimmen

Mit den Grünen in Stuttgart sieht er keine Probleme. "Die Grünen waren uns sowieso immer näher als die Roten", und der Kretschmann, der würde doch in der CDU gar nicht auffallen. Wären alle so konservativ wie Höflacher, dann wäre die Landesregierung vermutlich eine Schwarz-Grüne. Vorbei. "Der Mappus war zu vernagelt", sagt Höflacher.

In Ravensburg wird die CDU mit den Grünen dafür stimmen, dass die Modellschule beantragt wird. "Wenn es den Kindern nützt, stellen wir uns nicht dagegen." Freilich, meint Höflacher, der Handlungsdruck sei gering.

Druck machen aber die Ravensburger Grünen, die zweitstärkste Fraktion im Gemeinderat. Für sie sind Höflacher und seine Kollegen Teil eines Problems: Am katholischen Bildungszentrum St. Konrad und den fünf kleineren privaten Schulen werden fast 40 Prozent der Ravensburger Schüler unterrichtet. Manfred Lucha, grüner Landtagsabgeordneter aus dem Kreis Ravensburg, stellt trocken fest: "Der imperiale katholische Schulträger saugt die Rosinen ab, der Stadt bleibt die Pflichtversorgung."

Im Ravensburger Bildungsbericht ist die Rede von doppelter Segregation: "Ausländische Schülerinnen und Schüler besuchen nur sehr selten eine Privatschule und sind deutlich häufiger an Haupt- und Förderschulen anzutreffen." Bereits 1994 stellten die Grünen daher den Antrag, ein staatliches Schulzentrum zu errichten – eine Vorform der Gemeinschaftsschule also. Der Antrag scheiterte.

Im Jahr 2007 kamen dann Rudolf Bosch und seine Kollegen. "Die oberschwäbischen Rebellen" hießen sie in den Medien nach ihrem Brief ans Kultusministerium. Die Kuppelnauschule leitet Bosch seit 14 Jahren. Sie liegt im gleichen Schulbezirk wie das renommierte Bildungszentrum St. Konrad. "Künstlerpech", sagt Bosch.

"Die Ausländerschule"

Das heißt, zu ihm kommen die, die keine andere Wahl haben. "Wir kriegen Kinder, die komplett beschämt und frustriert sind. Wir nehmen sie an, wie sie sind, basteln sie zusammen. Bei einigen gelingt es, sie bekommen bessere Leistungen, und die geben wir dann nach dem Ende der 6. Klasse an die Realschule ab. Das ist nicht witzig."

"Die Ausländerschule" nennen sie die Kuppelnauschule auch. Gizem Akyol besucht sie seit der ersten Klasse. Bis zur vierten Klasse hatte sie nur deutsche Freundinnen. Die gingen dann alle auf die Realschule oder das Gymnasium. Sie wechselte auf den Hauptschulzweig.

Ihre Eltern, die Mutter hat einen Lebensmittelladen, der Vater ist Lieferwagenfahrer, hätten sich gewünscht, dass sie eine höhere Schulform besucht, erzählt Akyol, die Schulsprecherin ist. "Man kann aber von einem zehnjährigen Kind nicht erwarten, dass es in diesem Alter Verantwortung für seine schulische oder berufliche Zukunft trifft", sagt Gizem. Gerade hat sie die Empfehlung für die Werkrealschule bekommen. Ihr Ziel: das Abitur. Gizem, sagt ihre Lehrerin, sei eine begnadete Rednerin, wenn sie Versammlungen einberuft, dann hören alle Schüler zu. Nur im Schriftlichen hapere es eben noch.

Die Sprachförderung haben sie vernachlässigt, und die Hauptschulen haben sie hängen lassen, räumt sogar CDU-Gemeinderat Höflacher ein. Das sei ein Fehler gewesen. In diesem Sinne begrüße die CDU die geplante Modellschule als Angebotsschule. Eine unter vielen. Nicht mehr. "Wir sind uns einig, dass keine bestehende Schule gefährdet wird." Sagt Höflacher. "Eine starke Konkurrenz soll sie werden." Hofft dagegen Bosch.

Eltern wollen mitentscheiden

"Wie gut die neue Schule läuft, entscheiden die Eltern", sagt Johannes Volz, Vorsitzender des Ravensburger Gesamtelternbeirats. In seinen Ansichten stehe er eher links von der grün-roten Landesregierung, sagt er. Schulpolitisch bezeichnet er sich dagegen als "Traditionsvater".

Er hat das altsprachliche Spohn-Gymnasium besucht, wo seit dem 13. Jahrhundert Latein gelehrt wird. Nun gehen seine Kinder auf das Spohn-Gymnasium. Ob er seine Kinder auch auf eine Gemeinschaftschule des 21. Jahrhunderts schicken würde? "Sicher", sagt er. "Aber ich weiß nicht, ob ich sie auch dort lassen würde." Erfolgreich werde die Modellschule nur sein, wenn sie die Kinder dort hinbringt, wo alle Eltern sie haben wollen: zum Abitur.

Bislang steht der Gesamtelternbeirat der Modellschule wohlwollend gegenüber. Auch deshalb, sagt Volz, weil man sich stets darüber ärgerte, dass Schulpolitik immer von oben verordnet wurde. Bei der Modellschule dürfen die Eltern mitreden.

Etwa, wenn entschieden wird, wer Schulleiterin oder Schulleiter wird. Das ist einer der Knackpunkte, den die Ravensburger lösen müssen, falls ihr Antrag durchkommt. Oder welche Schule zur Gemeinschaftsschule mutiert, denn eine neue wird nicht gebaut. Und welche Lehrer man gewinnt. "Und ob die neue Wunderregierung das am Ende auch finanziert", wie die CDU im Schulausschuss bemerkt.

"Wenns nix wird, dann lasse mir es", sagt Höflacher. "Gar nix lasse mir. Die Modellschule muss ein Erfolg werden", sagt Bosch mit fester Stimme.

Das traditionelle Schülerfest in Ravensburg, das "Rutenfest", findet in diesem Jahr aber so wie in allen Jahren zuvor statt. Eine Woche vor den Sommerferien werden um die Kuppelnau-Schule Buden aufgebaut, auf dem Sportplatz wetteifern die Schüler um den Titel des Schützenkönigs – jede und jeder in seiner Liga.

Die Gymnasiasten schießen mit hölzernen Armbrüsten auf Adler, die Realschüler mit einem brusthohen Bogen auf die Türme der Stadt. Hauptschüler dürfen erst seit 2001 aufs Stadtwappen zielen. "Wenn sich das Schulsystem ändert, wird das eine Katastrophe fürs Rutenfest", sagt Bosch. Er grinst beinah. Auf die Katastrophe freut er sich.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.