Demokratie-Lobbyist zu Stuttgart 21: "Kein fairer Volksentscheid möglich"

Der Demokratie-Lobbyist Ralf-Uwe Beck fordert Grün-Rot auf, trotz der ungünstigen Verfassungslage über Stuttgart 21 abstimmen zu lassen – und die Mehrheit zu akzeptieren.

Teile des Volkes haben bereits entschieden: SPD-Chef Nils Schmid soll Stuttgart 21 stoppen. Bild: dapd

taz: Herr Beck, die Grünen in Baden-Württemberg zögern, ob sie sich auf einen Volksentscheid über Stuttgart 21 einlassen sollen. Können Sie als Volksentscheid-Lobbyist das verstehen?

Ralf-Uwe Beck: Ich sehe das Dilemma. Wer den Konflikt befrieden will, kommt nicht darum herum, eine Entscheidung der Bevölkerung herbeizuführen. Das macht allerdings nur Sinn, wenn das Verfahren fair ist und nicht eine Seite unangemessen bevorteilt wird.

Ist derzeit eine faire Volksabstimmung in Baden-Württemberg möglich?

Nein. Die derzeitige Rechtslage begünstigt einseitig die Befürworter von S21. Die Gegner müssen viel mehr Stimmen bekommen, um Erfolg zu haben.

Wie kommt es dazu?

Laut Landesverfassung genügt es nicht, wenn ein Ausstiegsgesetz im Volksentscheid die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält. Zusätzlich muss noch ein so genanntes Zustimmungs-Quorum erfüllt werden. Das heißt: insgesamt muss mindestens ein Drittel der wahlberechtigten Baden-Württemberger für den Ausstieg stimmen. Das ist kaum zu schaffen.

RALF-UWE BECK Der evangelische Theologe Ralf-Uwe Beck (49) ist Sprecher von "Mehr Demokratie e.V.", der Lobbyorganisation für direkte Demokratie in Deutschland.

Am Mittwoch wollen Grüne und SPD in Baden-Württemberg den entscheidenden Durchbruch bei ihren Koalitionsverhandlungen schaffen. Erneut trifft sich die Arbeitsgruppe, die eine Lösung für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 und den versprochenen Volksentscheid finden soll. Die Lage ist allerdings ernst, ein Kompromiss nur schwer zu finden.

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Wenn nach derzeitiger Verfassungslage abgestimmt wird, haben die Bahnhofsgegner keine faire Chance. Der designierte Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann gibt inzwischen zu, dass seine Partei das Problem unterschätzt und im Wahlkampf nicht deutlich genug angesprochen hat. Jetzt wollen die Grünen mit SPD und CDU über eine Änderung der Landesverfassung sprechen. Doch die Union wird derzeit wohl kaum den nützlichen Helfer spielen wollen.

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Auch die SPD, die noch vor der Wahl gemeinsam mit den Grünen eine Verfassungsänderung beantragt hatte, will sich daran nun nicht mehr gern erinnern lassen. Entweder es gebe einen Volksentscheid auf verfassungsrechtlicher Basis, sagt SPD-Landeschef Nils Schmid, "oder es wird zu Ende gebaut." Die SPD streitet also weiterhin offensiv für das Bahnprojekt.

Ein Drittel klingt doch machbar …

Das täuscht. Nehmen Sie an, dass sich etwa die Hälfte der Bevölkerung an der Volksabstimmung beteiligt, was realistisch ist: dann müssen zwei Drittel der Abstimmenden für das Ausstiegsgesetz stimmen, damit die Volksabstimmung rechtswirksam wird. Denn nur dann hat in absoluten Zahlen ein Drittel der Abstimmungsberechtigten für das Ausstiegsgesetz gestimmt. Die Gegner von S21 haben es also ganz offensichtlich schwerer, bei einer Volksabstimmung Erfolg zu haben.

Sollte man das Quorum also absenken?

Man sollte das Quorum nicht absenken, sondern ganz streichen. Es genügt, wenn in der Verfassung steht: "Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen". Auch in Bayern, Hessen und Sachsen gibt es bei Abstimmungen über einfache Gesetze kein zusätzliches Quorum und die Mehrheit entscheidet. Das gleiche haben letztes Jahr auch SPD und Grüne im Stuttgarter Landtag beantragt.

Na prima, dann kann Grün-Rot das Vorhaben jetzt ja gleich umsetzen …

Schön wär's. Dazu müsste die Landesverfassung geändert werden – was Grüne und SPD aber nur gemeinsam mit der CDU umsetzen könnten. Bis auf weiteres gilt also das hohe Quorum.

Soll es nun lieber keinen Volksentscheid geben als einen unfairen Volksentscheid?

Das ist eine falsche Alternative. Wir schlagen vor, dass ein Volksentscheid durchgeführt wird und SPD und Grüne vorher politisch versprechen, dass sie sich auf jeden Fall an die Mehrheitsentscheidung halten, auch wenn das Quorum nicht erreicht wird.

Ist das denn mit der Landesverfassung vereinbar?

Natürlich. Es ist ja nicht verboten, dass die Abgeordneten sich am Volkswillen orientieren. Selbstverständlich kann der Landtag nach einem Volksentscheid, der nur am viel zu hohen Quorum scheiterte, anschließend ein gleichlautendes Gesetz beschließen.

Warum sollte die SPD, die offiziell für Stuttgart 21 ist, bei diesem Verfahren mitmachen, das den Bahnhofsgegnern entgegenkommt?

Die SPD hat einen Volksentscheid vorgeschlagen, um den Konflikt zu entschärfen. Es liegt doch auf der Hand, dass es die Situation eher eskaliert, wenn die Gegner bei einem Volksentscheid zwar die Mehrheit haben, dies aber folgenlos bleibt, weil sich die Politik nicht an das Ergebnis gebunden fühlt.

Was halten Sie von einer unverbindlichen Volksbefragung?

Auch das wäre ein gangbarer Weg. Auch hier müssten sich die Regierungsparteien vor der Abstimmung politisch verpflichten, den Wunsch der Mehrheit anschließend im Landtag umzusetzen.

Teile der CDU halten eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 generell für unzulässig, weil der Bau von Bahnstrecken ein Bundesthema sei …

Thema der Abstimmung wäre ja nicht die Neubaustrecke an sich, sondern die finanzielle Beteiligung des Landes daran. Und wenn der Landtag darüber abstimmen kann, dann kann es darüber auch einen Volksentscheid geben.

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