Arbeitlos und ausgegrenzt: "Werdet hysterisch!"

Immer öfter müssen sich Psychologen und Psychotherapeuten mit Langzeitarbeitslosen, Minijobbern und Scheinselbstständigen beschäftigen.

Der Rausschmiss hinterlässt tiefe Wunden in der Psyche. Bild: imago/imagebroker

BERLIN taz | Arbeitsplatzunsicherheit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind Themen, die bislang vor allem in soziologischen Zeitdiagnosen Eingang fanden. Immer weniger machen die Folgen von Prekarisierungsprozessen aber auch vor den Praxen von Psychologinnen und Psychotherapeuten halt.

So zählt die Berliner Psychoanalytikerin Almut Bruder-Bezzel Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen ebenso wie Langzeitarbeitslose, Minijobber, Scheinselbstständige oder solche, die von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten wandern, zu ihren Kunden.

Viele von ihnen sind gut ausgebildet; haben zum Beispiel ein oder mehrere Studien abgeschlossen und finden sich doch bestenfalls in Beschäftigungen wieder, die gar nicht oder nur minimal ihren Qualifikationen entsprechen. AkademikerInnen, die putzen, Taxi fahren oder sich als Call-Center-Agents verdingen, sind keine Seltenheit.

Solche Entwicklungen, die sich auch in langen Wartelisten auf einen Therapieplatz niederschlagen, wurden von der therapeutischen Zunft bislang kaum thematisiert. Demgegenüber betont die Neue Gesellschaft für Psychologie die politische Verantwortung von akademisch und praktisch arbeitenden Psychologen.

Sie stünden in Gefahr, "von der zunehmenden gesellschaftlichen Unsicherheit zwar zu profitieren, aber darüber ihre Verantwortung für ihre Klienten aus den Augen zu verlieren", mahnten die OrganisatorInnen des Kongresses "Macht - Kontrolle - Evidenz", der Anfang März zu diesem Thema an der Freien Universität Berlin stattfand.

Dass das in der Praxis nicht ganz einfach ist, hat die Psychoanalytikerin Bruder-Bezzel zur Genüge erlebt. Sie ist in ihrer Arbeit nämlich nicht nur mit den aus prekären Lebensverhältnissen resultierenden individuellen Pathologien ihrer PatientInnen, sondern auch mit konkreten gesellschaftlichen Ausgrenzungsdiskursen konfrontiert.

Sozialer Krieg

Das mediale Trommelfeuer gegen "Sozialschmarotzer", das nach Auffassung des Politologen Michael Wolf immer mehr die Form eines sozialen Kriegs gegen die zum innerstaatlichen Feind erklärten Arbeitslosen annimmt, lässt ihre KlientInnen nicht unberührt.

Armut und Arbeitslosigkeit werden von ihnen als ein persönliches Problem verstanden, das mit Schuld, Scham und Schande verbunden ist. Selbst in der Therapie sprechen sie das damit verbundene Leiden nach Bruder-Bezzels Erfahrungen von sich aus nicht an.

Dabei kann sich die Analyse dann leicht zu einem Verdrängungsmanöver entwickeln: Während Kindheitserfahrungen einen breiten Raum einnehmen, bleiben aktuelle Traumatisierungen durch Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse weitgehend ausgespart. Dies hängt auch mit der Fokussierung der Psychoanalyse auf die Kindheit zusammen.

Häufig wird dabei übersehen, dass psychische Konflikte im Zusammenhang mit der Berufssituation stehen oder durch diese verstärkt werden können. So gerät, wie Bruder-Bezzel moniert, die Welt in der Therapie allzu oft zur Familie und die Arbeit zum Sandkastenspiel, in dem der Arbeitgeber zum besorgten oder garstigen Familienvater mutiert.

Sprachlos leiden

Prekarisierungserfahrungen werden jedoch auch in anderen Lebensbereichen verdrängt. Für Thomas Goes von der Universität Jena stellen sie Formen des Arbeitsleids dar, die bislang nicht angemessen artikuliert werden können.

Nach Ansicht des Prekarisierungsforschers wirken sie sozial disziplinierend: Während die noch in den Arbeitsmarkt Integrierten gegen das Abrutschen in die Zone der unsicheren Beschäftigung kämpfen, versuchen Leiharbeiter und Beschäftigte ohne festen Arbeitsvertrag um jeden Preis in den Arbeitsmarkt zu gelangen. Daraus resultiert eine gegenseitige Konkurrenz und eine abnehmende Solidarität zwischen den prekär und regulär Beschäftigten.

Beide Gruppen haben dabei die bereits dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedenen als abschreckendes Beispiel im Blick.

Dies wirkt sich auf die Deutungsmuster aus, die unsicher Beschäftigte zur Erklärung ihres subalternen Status vornehmen: In Goes Untersuchung zählten sich selbst schwer körperlich arbeitende Leiharbeiter mit einem Nettoeinkommen zwischen 800 und 1.200 Euro zur Mittelschicht. Daraus lässt sich vielleicht auch die geringe Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln ableiten.

Zwar waren die Befragten durchaus mit ihrer Arbeitssituation unzufrieden, sahen aber nicht, dass es dazu irgendeine Alternative gibt. Selbst bei der Frage, wie kleine alltägliche Verbesserungen wie zum Beispiel eine Verlängerung der Pausenzeiten zu erreichen wären, herrschte bei den Betroffenen tiefe Ratlosigkeit.

Damit unterscheiden sie sich nicht wesentlich von anderen gesellschaftlichen Gruppen, die zwar auch unter den ökonomischen Umstrukturierungen leiden, denen man gemeinhin aber eine größere Handlungsfähigkeit zuspricht.

"Innere und äußere Entgrenzung"

Auch Studienabsolventen und hoch qualifizierte junge Arbeitnehmer werden nach Beobachtungen des Hannoveraner Psychologen Markus Brunner von Existenz- und Zukunftsängsten gequält. Nicht nur beim Eintritt ins Berufsleben sind sie permanenten Evaluierungs- und Selbstevaluierungsprozessen ausgesetzt, hinter denen stets die Drohung des Ausschlusses verborgen ist.

Dabei erleben sie "eine innere und äußere Entgrenzung". Wo, wie in der "schönen neuen Arbeitswelt" feste Vorgaben fehlen, muss die Person all ihre Kraft auf die individuelle Selbstoptimierung konzentrieren. Häufig lauert dabei die Angst vor dem Versagen im Hintergrund.

Falls die oder der Einzelne den Erfolgsdruck nicht mehr aushält und zusammenbricht, ist sie nicht selten mit Therapien konfrontiert, die wie der Sozialpsychiater Christoph Bialluch kritisiert, "eine Depression einer Diabetes im Sinne einer Stoffwechselstörung gleichstellen".

Wo psychische Symptome mit naturwissenschaftlichen Modellen erklärt werden, glaubt man, sie mittels Psychopharmaka kurieren zu können. Dabei, so Bialluch, werde aber ausgeklammert, dass psychisches Leiden auch die Entfremdung des Menschen von sich selbst anzeigt. Unter Umständen kann eine psychische Störung eine durchaus sinnvolle Reaktion auf eine krank machende Umwelt sein.

Bialluch empfiehlt deshalb gegen die diagnostische "Einpferchung" psychischen Leidens wie auch die Zumutungen der modernen Arbeitswelt eine Strategie der Subversion: "Werdet hysterisch!" lautet seine Maxime, was für ihn im Zweifelsfall "Mehr Christoph Schlingensief und weniger Robert Enke" heißt.

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