Montagsinterview Blinde Malerin Silja Korn: "Bisher habe ich keine Grenzen gefunden"

Silja Korn ist seit ihrer Kindheit blind. Das hält sie vom Fotografien genauso wenig ab wie vom Malen. Zudem ist sie Erzieherin - als erste Blinde fand sie in diesem Beruf eine Anstellung im öffentlichen Dienst.

Silja Korn mit einem ihrer Bilder Bild: David Oliveira

taz: Frau Korn, Sie sind vor über 30 Jahren erblindet und malen mit Farben. Wissen Sie noch, wie die aussehen?

Silja Korn: Ja, ich weiß noch, wie Farben aussehen. Ich konnte ja sehen, bis ich zwölf war. Bis heute sind Farben für mich immer mit Erinnerungen und einem Gefühl verbunden.

Was verbinden Sie denn, sagen wir, mit Blau?

Die Berlinerin: Silja Korn wurde 1966 in Berlin geboren. Im Brutkasten wurden ihre Augen so geschädigt, dass sie von klein auf eine starke Sehschwäche hatte. Sie wuchs in Neukölln am Hermannplatz auf. Dort wurde sie im Alter von 12 Jahren von einem Auto erfasst und verlor durch eine schwere Gehirnerschütterung ihr Augenlicht zu 95 Prozent, mit 17 Jahren erblindete sie völlig. Heute lebt sie mit ihrem Mann und dem 20-jährigem Sohn in Charlottenburg.

Die Erzieherin: Nach der Blindenschule absolvierte Korn eine Ausbildung zur Erzieherin und erkämpfte als erste Blinde die staatliche Anerkennung ihres Abschlusses. Korn arbeitet als Sprecherzieherin in einer Tempelhofer Kita.

Die Aktivistin: Silja Korn engagiert sich im Berliner Blinden- und Sehbehindertenverein, ist Schirmherrin im Verein "Kunst kennt keine Behinderung" und leitet eine Gruppe für behinderte Mütter. Im europäischen Jahr der Gleichstellung 2007 war sie eines der "Faces of the year". In dieser Kampagne der Europäischen Kommission wurden Menschen porträtiert, die sich für die Gleichbehandlung von Behinderten einsetzen.

Die Ausstellung: Noch bis zum 18. März stellt Silja Korn ihre Bilder unter dem Motto "Lichtblick" im Berlin-Carré in der Karl-Liebknecht-Straße 13 aus. Montags bis Samstags ist sie selbst zwischen 16 und 20 Uhr vor Ort. Mehr Informationen: www.siljakorn.de.

Da denke ich an die Urlaube mit meinen Eltern im Süden. Ich sehe die unterschiedlichen Himmelfarben aus Spanien oder Griechenland vor mir und erinnere mich an die Wärme des Sands, das Gefühl von Freiheit.

Sie arbeiten für Ihre abstrakten Bilder mit Materialien wie Holz, Draht, Steinen oder Linsen. Sind diese Bilder zum Anfassen für Blinde gedacht?

Ich habe schon Bilder zum Anfassen gemacht, aber viele Blinde haben sich nicht getraut, sie anzufassen. Ich mische die Materialien auch unter die Farben, damit ich sie unterscheiden kann. Aber die Bilder sind auch für Sehende, ich möchte mit ihnen in Kontakt kommen, und das passiert durch die Bilder. Die Leute stehen davor, unterhalten sich mit mir und vergessen manchmal auch, dass ich blind bin. Mein Ziel ist, dass Menschen die Hemmungen vor Menschen verlieren, die anders sind.

Sie haben erst vor drei Jahren einen Pinsel in die Hand genommen. Wie kam das?

Als Kind war Malen für mich die absolute Entspannung nach der Schule. Nach meiner Erblindung hätte ich nie gedacht, dass ich es jemals wieder könnte. Dann habe ich vor einigen Jahren im Internet gelesen, dass blinde Kinder malen lernen, und dachte: Wenn die das machen, kannst du das auch. Ich habe eine sehende Künstlerin angeschrieben, die für ihre Bilder auch Materialien verwendet hat, die man anfassen kann. Ich habe sie gefragt, ob sie sich vorstellen kann, mich zu unterrichten. Sie hat mich dann an den Pinsel und den Spachtel herangeführt.

Wie orientieren Sie sich denn auf der Leinwand?

Ich fasse den Pinsel viel weiter unten an als sehende Maler, damit ich die Leinwand spüre, aber auch die Farbe und den Pinsel. Wenn ich gemalt habe, sehe ich deshalb selbst aus wie angemalt. Aber es ist mir wichtig, dass ich einen direkten Kontakt zu meinem Bild und damit das nötige Gefühl dazu habe. Als ich wieder mit dem Malen anfing, war das für mich wie eine Befreiung. Ich wollte die Farben rauslassen. Wo genau auf dem Bild sie sich befinden, war mir gar nicht so wichtig. Ich wollte mir das Malen zurückerobern. Man hatte mich ja an andere für Blinde geeignete Sachen herangeführt, aber die haben mir nie solchen Spaß gemacht wie das Malen.

Wie etwa Korbflechten?

Ja, das habe ich auch gemacht, und wir haben an der Blindenschule gelernt, mit Ton oder mit Speckstein zu arbeiten. Aber der Staub vom Speckstein ist so samtig, und ich kann Samt nicht leiden, da bekomme ich eine Gänsehaut. Außerdem ist es Styropor so ähnlich, ein Material, das mir sehr unangenehm ist. Auch Ton unter den Fingernägeln mochte ich nicht.

Auch bei Ihrer Berufswahl sind Sie nicht die für Blinde vorgesehenen Wege gegangen: Sie waren 1989 die erste blinde staatlich anerkannte Erzieherin Deutschlands.

Ja, damals gab es nur blinde Sonderpädagogen, die als Erzieher an Blindenschulen gearbeitet haben. Aber eine normale Erzieher-Ausbildung zu beginnen, hatte vorher noch niemand gewagt. Ich wollte unbedingt Erzieherin werden, weil ich mich als Kind an der Blindenschule nicht gut aufgehoben gefühlt habe. Es wurde zu wenig auf uns Kinder und unsere Bedürfnisse eingegangen. Auch meinen Berufswunsch fanden meine Lehrer dort nicht so toll - mit dem Argument, dass ich vieles, was normale Erzieher machen, nicht abdecken könne. Aber ich wollte ein Katalysator werden, eine Vermittlerin zwischen Blinden und Sehenden. Am Ende habe ich mich durchgesetzt. Da war ich schon 18, und auch meine Eltern konnten da nichts mehr sagen.

Ihre Eltern waren dagegen?

Nicht direkt dagegen, aber sehr unsicher. Natürlich wollten sie nur das Beste für ihre Tochter. Sie hatten Angst, dass ich vielleicht einen Beruf erlerne und danach keine Anstellung finde und unglücklich werde. Sie wollten mich einfach in Sicherheit sehen, aber sie haben mich natürlich dann unterstützt.

Haben Sie denn gleich nach dem Abschluss eine Stelle gefunden?

Das mit der Stelle war gar nicht so schwierig, aber man wollte mir die staatliche Anerkennung nicht geben. Ich hatte sofort nach der Ausbildung eine Anstellung in einem Hort in Schöneberg. Der Bezirk hat schon damals viel für die Integration von Menschen mit Handicaps getan und war mir gegenüber sehr offen. Als ich die Stelle nach meinem Examen und Berufspraktikum antreten wollte, wurde die staatliche Anerkennung jedoch abgelehnt, mit dem Argument, dass ich als Blinde der Aufsichtspflicht gegenüber den Kindern nicht nachkommen könne. Die hat sich dann sehr für mich eingesetzt. Auch die Behindertenbeauftragte von Schöneberg und der Blinden- und Sehbehindertenverein haben sich für stark gemacht. So hat es doch noch geklappt.

Und Sie selbst? Hatten Sie Angst, nicht gut genug auf die Kinder aufpassen zu können?

Wir haben das in dem Schulhort so geregelt, dass ich nicht mit einer großen Gruppe Kinder rausgehe. Klar probieren Kinder anfangs aus, ob sie mich reinlegen können. Ich bin also nur mit Kindern raus, bei denen ich sicher war, dass sie auf mich hören. Wir waren dann zusammen im Zoo, Kino oder Theater. Und mit dem Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 habe ich auch eine Assistentin bekommen, die mir hilft, wenn das nötig ist.

Sie haben viel gegen Vorurteile kämpfen müssen. Wie war das, als Sie selbst Mutter wurden?

Es gab schon Leute, die gesagt haben: Was, als Behinderte ein Kind? Das hat mich sehr verletzt, ich hatte ja bereits Jahre mit Kindern gearbeitet. Warum sollte ich nicht ein eigenes bekommen? Natürlich hatte ich auch bei meinem Sohn anfangs Angst, dass er mir runterfällt oder dass ich mit ihm irgendwo anstoße. Aber da habe ich schnell eine Sicherheit bekommen. Das musste ich auch, denn mein Mann hat gearbeitet, und ich konnte auch mit dem Kind nicht immer zu Hause bleiben, da hätte ich eine Macke bekommen. Mit dem Stock und einem Tragetuch ging das dann auch. Später habe ich mich an die Behindertenfürsorgestelle gewandt und eine Familienhilfe bekommen. Die ist mit mir zum Beispiel auf Spielplätze gegangen.

Sie arbeiten jetzt in einer Kita und machen vor allem Spracherziehung für Kinder mit Migrationshintergrund. Haben Sie da Vorteile gegenüber sehenden Kolleginnen?

Ich habe den Vorteil, dass die Kinder richtig mit mir sprechen müssen, wenn sie etwas wollen. Bei meinen Kolleginnen können sie immer auf Zeichensprache ausweichen. Bei mir kommen sie aber nicht weit mit ,Silja, gibst du da mir …', wenn sie Tee haben wollen. Außerdem bekommen die Kinder durch mich von Anfang an mit, dass es Menschen gibt, die anders sind. Dadurch verlieren sie die Scheu. Diese Kinder gehen ganz anders auf Menschen mit Handicaps zu und müssen das nicht erst als Erwachsene lernen. Vielleicht können sich die Kinder später nicht mehr an meinen Namen erinnern - aber daran, dass da eine Frau gewesen ist, die Punkte gelesen hat und mit der man trotzdem viel Spaß haben konnte.

Anders als in Ihrer Kindheit ist es heute Ziel der Politik, behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam in Integrationsschulen lernen zu lassen. Welche Vorteile hätte solch eine Schule für Sie gehabt?

Als Blinde ist man an einer Blindenschule sehr isoliert, ich habe mich immer sehr angepasst. Während meiner Erzieherausbildung war ich plötzlich die einzige Blinde unter Sehenden, ein absoluter Pionier, denn an meiner Erzieherfachschule hatte es bis dahin noch nie einen Menschen mit Handicap gegeben. Wäre ich von Anfang an an einer normalen Schule gewesen, wäre mir der Kontakt zu Sehenden viel leichter gefallen. Ich wäre geübter darin gewesen, Hilfe einzufordern und anzunehmen, das habe ich an der Blindenschule nicht gelernt. Auch nicht, dass ich sehenden Menschen etwas zurückgeben kann.

Sie brechen Grenzen auf, die Blinden gesetzt werden. Was treibt Sie an?

Ich war gerade nach meiner Erblindung ein sehr ängstlicher Mensch, aber ich bin sehr neugierig, das war mein Vorteil. Schon als Kind haben meine Eltern immer gesagt: "Mensch, Silja, du willst immer alles wissen." Ich will einfach etwas erreichen in meinem Leben, und ich wollte immer raus und mich meiner Angst nicht so ausliefern. Das hat mich im Laufe der Zeit immer mutiger gemacht. Mit jeder Sache, die ich gemeistert habe, habe ich mehr Zutrauen gefunden und wurde mutiger darin, Dinge anzugehen, die eigentlich für blinde Menschen nicht vorgesehen sind …

… Sie fotografieren, Sie nehmen an Trabrennen teil, Sie spielen Fußball …

Ja, ich habe einige Jahre Blindenfußball gespielt, das war toll. Man fühlt sich unglaublich frei, weil man da ja ohne Stock läuft.

Wie wissen Sie denn, wo der Ball gerade ist?

Der macht Geräusche, der hat Rasseln unterm Leder.

Und wenn Ihnen jemand im Weg steht?

Meistens spürt man das. Außerdem schreit der andere "Voy" - das heißt "Ich komme" auf Spanisch und wird im Blindenfußball international benutzt. Außerdem stehen hinter dem Spielfeldrand Coachs, die dann "Vorsicht" rufen.

Wie finden Sie das Tor?

Wir haben einen sehenden Torwart, der ruft dann: "Silja, jetzt nach links und schieß!" Man muss sehr viel kommunizieren. Der Blindensportverein und der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband hatten im Jahr 2006 die englische blinde Nationalmannschaft eingeladen. Die haben uns und Blinden und Sehbehinderten aus ganz Deutschland das Spielen beigebracht. Seitdem gibt es eine Menge blinder Fußballmannschaften in Deutschland. Ich selbst spiele gerade nicht mehr, weil ich mir bei einem Foul einen Finger so schlimm ausgekugelt habe, dass ich jetzt ein bisschen Angst habe.

Wären Sie in Ihrer Freizeit so aktiv, wenn Sie nicht erblindet wären?

Wahrscheinlich nicht. Mein Vater sagt immer: "Du machst ja mehr als die Sehenden." Ich habe Lust, den Leuten zu zeigen, dass wir Blinde das alles können. Es macht mir Spaß, und bei jeder neuen Sache gibt es immer wieder die Herausforderung zu schauen, ob es dort Grenzen gibt. Bisher habe ich noch keine gefunden. Manchmal sage ich, dass meine Blindheit auch ein Segen ist, ich hätte, glaube ich, in einem Leben nicht so viele interessante Menschen kennen gelernt, hätte wohl nie ein Interview gegeben, weil ich viel zu schüchtern war. Ich habe durch die Blindheit lernen müssen, auf Menschen zuzugehen.

Hilft das Internet dabei, die Isolation zu überwinden?

Es hat mir wahnsinnig geholfen, und ich bin sehr viel im Netz unterwegs. Ich kann jetzt Zeitungen online lesen, ich kann mich im Internet über Erziehungsfragen informieren und so besser auf meine Arbeit vorbereiten.

Nochmal zurück zu Ihren Bildern. Die haben Sie schon mehrfach ausgestellt. In Ihrer aktuellen Ausstellung gibt es eine Collage aus Zeitungsausschnitten über Berlin. Auf einem Schnipsel steht "Zeit zum Entspannen". Ist Berlin mit seiner Größe und Geräuschkulisse nicht gerade für Nichtsehende wahnsinnig anstrengend?

Ich bin hier aufgewachsen und mir gefällt der Trubel um mich herum, er macht es einfacher für mich, mich zu orientieren. Ich könnte mir nicht vorstellen, in einer anderen Stadt oder gar auf dem Land zu leben. Ich fahre oft zu meinen Eltern, die wohnen inzwischen auf dem Land und da ist es mir einfach zu ruhig. Wenn ich mich auf dem Dorf verlaufen würde und dann käme da keiner lang, der mir helfen könnte, dass würde mir totale Panik machen. Aber auch Berlin kann anstrengend sein, gerade wenn ich müde von der Arbeit komme.

Was nervt Sie dann?

Berlin ist lauter geworden, das kostet mich schon viel Konzentration. In vielen Geschäften läuft Musik und Werbung, die ganzen Werbeschilder, die mitten im Weg stehen, und der Hundekot auf der Straße sind für mich natürlich anstrengend. Oder das Umhergeräume in den Supermärkten. Plötzlich stehen da, wo vorher Dosenpfirsiche standen, Erbsen. Das merke ich aber erst zu Hause und bin genervt. Aber das Wichtigste ist für mich, dass ich mich in dieser Stadt allein bewegen kann. Ich will nicht darauf angewiesen sein, dass mein Mann mich immer irgendwohin bringt. Ich will mich eigenständig als Silja Korn fühlen und nicht in irgendeinem Schlepptau hängen. Wenn mich eine Freundin spontan anruft und sich mit mir treffen will, kann ich sagen: "Ich geh jetzt alleine los."

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