100 Jahre Sechstagerennen: Ein runde Sache

Zum 100. Mal fahren ab Donnerstag Radler im Kreis. Einst war es ein Treffen des Hofes, der Halbwelt und Boheme. Inzwischen geht es um Massenentertainment.

Immer im Kreis herum. Das traditionelle Berliner Sechstagerennen Bild: dpa

In der ungeheizten Halle am Ausstellungsgelände am Bahnhof Zoo ist es kaum wärmer als draußen. Manche Radrennfahrer haben sich an diesem 15. März 1909 neben ihre Schlafkojen im Keller kleine Öfen gestellt, um in den kurzen Pausen nicht völlig auszukühlen. In der Halle sind die Bedingungen für die Sportler kaum komfortabler: Es ziehen dicke, von Zigarren und Zigaretten geschwängerte Rauchschwaden über die ovale, 150 Meter lange Holzbahn. Schießen die Radrennfahrer hinaus aus den vier Meter hohen Steilkurven, verdunkelt der Tabakdunst die Sicht auf die Gegengerade. Trotzdem gehen 30 mutige Männer in 15 Teams an jenem späten Dienstagabend an den Start des ersten Berliner Sechstagerennens.

Vor allen den Fahrern aus den USA - wie dem späteren Gewinnerpaar Floyd MacFarland und James Moran - eilt ein sagenhafter Ruf voraus. In New York bei den Six Days im Madison Square Garden waren die beiden eine ganz große Nummer. Zur Berliner Uraufführung 1909 kommen am ersten Abend auch deshalb gleich mehr als 10.000 Zuschauer. Sie bekommen ordentlich was geboten: Nach dem Startschuss kreisen die Rennfahrer sechs Tage und sechs Nächte lang durch das Oval, nicht selten bis zur totalen Erschöpfung. Die kurzen Ruhepausen werden neben einem Nickerchen vor allem dazu genutzt, mithilfe von Kokain, Koffein und einem tiefen Zug aus der Sauerstoffflasche wieder zu Kräften zu kommen.

Wenn am heutigen Donnerstag das 100. Berliner Sechstagerennen beginnt, werden wieder tausende meist betagte Zuschauer ins Velodrom strömen. Am Sonntag ist Familientag. Alles wirkt ein bisschen bieder, auch Unterhaltungsveteran Frank Zander wird mal auftreten. Zur Premiere 1909 - überhaupt das erste Sechstagerennen in Europa - hatte sich hingegen hoher Besuch angesagt. Kronprinz Wilhelm von Preußen verfolgt an drei Abenden das Rennspektakel. Er macht den "Zirkus des Irrsinns" und "der Menschenschinderei", wie die Berliner Presse schreibt, auf Anhieb gesellschaftsfähig.

Das erste Rennen gewinnen die Favoriten MacFarland und Moran. In sechs Tagen und sechs Nächten, in 144 Stunden, strampelt das Duo die unglaubliche Stecke von 3.865,7 Kilometern ab. Das Publikum feiert sich aber lieber selbst. Die körperlich schwer gezeichneten Sieger aus Amerika sind nicht mehr als gut bezahlte Komparsen in diesem großen Gesellschaftsspiel und werden schnell vergessen. Zur Siegerehrung schallt längst aus vollen Kehlen "Pardon für Rütt" durch das Oval. Der Ruf gilt dem deutschen Radsportstar Walter Rütt, der zwei Jahre zuvor die Six Days in New York gewonnen hat. Rütt ist bekennender Militärgegner und hat sich nach Frankreich abgesetzt, um dem preußischen Wehrdienst zu entkommen. Kronprinz Wilhelm beugt sich schließlich dem Druck der Radsportfans. Er garantiert dem Volkshelden freies Geleit nach Berlin, wenn er zum nächsten Sechstagerennen antreten wolle.

Rütt enttäuscht seine Fans nicht. Als Erster rauscht er mit seinem Partner Jack Clark im Dezember 1909 über die Ziellinie - nach 3.721 Kilometern. Das Publikum feiert den überzeugten Antimilitaristen Rütt. Er schämt sich seiner Tränen nicht, als die kaiserliche Kapelle "Heil dir im Siegerkranz" anstimmt.

Im Jahr 1911 zieht das Sechstagerennen in den Sportpalast um. Es beginnt die große Zeit, Legenden werden gestrickt. Das Sportspektakel gilt fortan als der Versammlungsort der High Society. Es ist zudem ein kleines, geschlossenes Soziotop der Vertreter der neureichen Halbwelt und ein wichtiges soziale Ereignis für ein aufstrebendes, radsportkundiges Proletariat dazu.

Räumlich werden diese Milieus klassenbewusst voneinander getrennt. Oben in den Logen des Sportpalastes vergnügt sich die feine Gesellschaft. Die Männer standesgemäß in Frack gekleidet, die Damenwelt in tief ausgeschnittenem Abendkleid gewandet und beide gemeinsam üppig mit Champagner ausgestattet. Unten auf den billigen Plätzen, dem sogenannten Heuboden, trifft sich die Arbeiterschaft und tobt sich dort bierselig aus.

Bis 1934 bleibt das Sechstagerennen in Berlin eine gesellschaftliche Institution, "zu dem die Radfahrer in erster Linie als Unterhaltungsprogramm engagiert wurden", wie der heutige Geschäftsführer des Rennens, Heinz Seesing, den Radzirkus charakterisiert. Neben Boxen sind die Sechstagerennen das beliebteste Sportereignis in der pulsierenden Hauptstadt der Zwischenkriegszeit.

Die fünfte Jahreszeit

Das Rennen markiert eine Art gesellschaftlichen Ausnahmezustand, eine "fünfte Jahreszeit". Es ist das perfekte Schaufenster für eine sich als tolerant und modern verstehende Metropole Berlin: Bertolt Brecht, Max Schmeling und andere Größen des Show-, Sport- und Literaturbetriebs sind gern gesehene Stammgäste. Egon Erwin Kisch schreibt Reportagen über die "elliptische Tretmühle" und erhebt diese Sportveranstaltung und ihr Publikum literarisch in den Rang "eines Protests gegen die Zweckhaftigkeit und Mechanisierung" jener Zeit. Kisch hat wohl recht: Es ist der dem Sechstagerennen innewohnende anarchische Charakter, diese Unberechenbarkeit in der Beziehung von Fahrer und Publikum, die das vorläufige Ende dieses Ereignisses provoziert.

Verbot durch die Nazis

Die Nationalsozialisten verbieten 1934 das Rennen. Erst 1948 wird wieder die große Glocke geschlagen, die das Rennen bis heute eröffnet und den Fahrern die letzte, ersehnte Runde ankündigt. 1962, zum 50. Rennen im wiederaufgebauten Sportpalast, ziehen die Veranstalter eine Zwischenbilanz: 3 Millionen Zuschauer, 7.250 Stunden Sport und 150.000 Kilometer.

Doch die Legende lockt nicht mehr, der Zauber von einst ist längst verflogen. Von 1973 bis 1990 bietet die Deutschlandhalle die Bühne. Das Ereignis verkommt "zu einer billigtouristischen Attraktion für Besucher Westberlins", so Geschäftsführer Seesing. 1990 ist dann Schluss: Das Sechstagerennen ist pleite.

Ein Bremer, Heinz Seesing nämlich, erweckt es im Jahr 1997 zu neuem Leben. Die Voraussetzungen sind nicht schlecht: Der Senat hat an dem ehemaligen Standort der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle das Velodrom gebaut. Es ist Teil der gescheiterten Olympiabewerbung. Und es zeigt sich: Die Halle ist bei Fahrern und Publikum gleichermaßen beliebt. Sie vermittelt dem Besucher das Raumgefühl des alten Berliner Sportpalasts. Der Kreis schließt sich.

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