Übungsfrau B. über ihren Beruf: "Man kann das nicht völlig fernhalten"

Vimala B. arbeitet als "Übungsfrau", die Behinderten den Weg in die Welt der Zärtlichkeit und Partnerschaft ebnet. Weil sie selbst eine Missbrauchsgeschichte durchlitten hat, empfindet sie ihren Beruf als Berufung. Ein Gespräch über Tabus und Bedürfnisse, Geld und Zungenküsse.

"Ein Teil Prostitution ist schon dabei": Vimala B. auf ihrem Bett. Bild: Jan Zier

taz: Sind Sie Hure oder Heilige, Vimala?

Vimala B: Beides.

Inwiefern?

Ich würde mich weder so noch so bezeichnen. Das ist anmaßend. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Menschen in ihre Kraft zu bringen. Und Sexualität ist die höchste Lebensenergie.

Sie bieten Sexualbegleitung und Liebesschule für behinderte Menschen an. Warum?

Ich denke, das hat mit meiner eigenen Lebensgeschichte zu tun: Ich wurde zehn Jahre lang emotional und sexuell missbraucht. Meine Seele ist dadurch behindert. Da fühle ich mich in der Gesellschaft Behinderter wie unter Gleichgesinnten. Und der Behinderte braucht jemand, der seine Bedürfnisse und Gefühle versteht. Für mich sind behinderte Menschen genauso Menschen wie nicht Behinderte. Sie haben die gleichen Bedürfnisse nach Nähe, Zärtlichkeit oder Partnerschaft. Ich kann nicht verstehen, dass es Menschen gibt, die denken, dass Behinderte keine Berührungen brauchen, keine Sexualität haben.

43, ist im Institut zur Selbstbestimmung Behinderter ausgebildete Sexualbegleiterin.

Ihre Sexualbegleitung, Liebesschule und ihr Liebescoaching bietet sie Behinderten wie Nichtbehinderten an, Frauen wie Männern - egal welcher sexuellen Ausrichtung.

Ziel ist es, das Selbstvertrauen zu stärken, selbstsicheres Auftreten zu üben, die eigene erotische Ausstrahlung zu entdecken und besser mit Ängsten und Unsicherheiten umgehen zu lernen.

Bei Haus- und Hotelbesuchen arbeitet sie mit Rollenspielen und Gesprächen; sie lehrt, die Körpersprache zu deuten und die Wahrnehmung zu sensibilisieren.

Wie kamen Sie zu dem Job?

Ich habe früher in Freiburg Tantra-Massagen gegeben und las dort eines Tages einen Bericht über die holländische Sexualbegleiterin Nina de Vries, wie sie mit einem geistig behinderten Mann arbeitet. Da hab ich gespürt: Das will ich machen. Das ist meins. Ich bin ein Mensch, der seiner Intuition folgt. Und es hat sich bestätigt, dass das genau das Richtige war. Ich sehe meinen Beruf als Berufung.

Ist die Sexualbegleitung aus Ihrer Sicht ein Schritt in die Emanzipation?

Ja.

Andere sagen: Da werden Menschen nur ruhiggestellt.

Das stimmt überhaupt nicht. Ein Mann, der noch nie mit einer Frau geschlafen hat, wird ganz unsicher sein, wenn er Frauen begegnet, sich vielleicht auch gar nicht als Mann fühlen. Er braucht diese Erfahrung und kann sie bei mir in einem achtsamen Rahmen machen, wo er einfach üben kann. Ich bezeichne mich deshalb auch als Übungsfrau. Sexualbegleitung ist ein Weg, behinderte Menschen zu bestärken, sie selbstbewusster zu machen, ihnen zu sagen, ihr Körper funktioniert, auch wenn sie behindert sind. Und wer eine erfüllte Sexualität hat, strahlt Zufriedenheit aus. Einige meiner Gäste, die ich jahrelang begleitet habe, leben heute in Partnerschaften. Sexualbegleitung ist für mich in diesem Sinne ein Zwischenschritt.

Wer kommt zu Ihnen?

Zumeist Körperbehinderte, viele Rollstuhlfahrer oder Spastiker, aber auch Multiple Sklerose-Kranke, bisweilen auch geistig Behinderte oder Autisten.

Auch Frauen?

Ja. Aber es gibt sehr wenige Frauen, die Erotikangebote in Anspruch nehmen. Männer sind da mutiger. Frauen brauchen viel mehr Vertrauen. Und sie können sich anders behelfen: Der Markt an potentiellen Männern, die ihnen Erotik umsonst anbieten, ist ja groß.

Es gibt keine Sexualbegleiter?

Wenige.

Gibt es Gäste, bei denen Sie Vorbehalte haben?

Nein. Es sei denn: Bei respektlosem Verhalten oder alkoholisierten Personen. Aber das hat ja nichts mit einer Behinderung zu tun.

Bei geistig Behinderten ist das Tabu am größten.

Die werden sehr unter Verschluss gehalten. Wenn jemand einen gesetzlichen Betreuer hat und in einer Einrichtung lebt, kann er mich natürlich nicht selbst buchen. Manche Einrichtungen ignorieren das Thema völlig, andere haben sogar einen separaten Raum dafür. Das ist sehr unterschiedlich. Insbesondere in kirchlich geförderten Häusern ist es ganz schwierig. Da komme ich gar nicht rein. Der Idealfall wäre: Jede Einrichtung hat einen Sexualberater oder eine Sexualberaterin.

Bei den geistig Behinderten stellt sich auch die Frage, inwiefern sie selbständig und eigenverantwortlich entscheiden können.

Viele geistig Behinderte sind heller im Kopf als man denkt. Sie verstehen mehr, als ihnen zugetraut wird.

Bekämpft die Sexualbegleitung die Symptome oder die Ursachen des gesellschaftlichen Problems?

Das ist von Fall zu Fall verschieden. Ich kenne einen Mann, der circa 30 Mal bei mir war und jetzt in einer Partnerschaft mit erfüllter Sexualität lebt. Anfangs war er sehr unsicher, wollte sich gar nicht nackt zeigen. Da würde ich sagen: Da ist die Wurzel behandelt worden. Wenn jemand die Sexualbegleitung nur nutzt, weil es billiger ist als zu einer Prostituierten zu gehen, ist das natürlich was anderes.

Sie sehen sich selbst nicht als Prostituierte?

Ein Teil Prostitution ist schon dabei. Aber 95 Prozent der Männer, die zu mir kommen, machen das kontinuierlich. Für sie ist das ein Entwicklungsweg.

Ist das für Sie eine therapeutische Arbeit?

Nein, dafür fehlt mir die Ausbildung. Aber es geht schon in die Richtung: Es geht ja um Selbsterfahrung, darum, jemand etwas bewusst zu machen.

Können Sie davon leben?

Ja, es gibt ganz viel Bedarf, aber nur ganz wenige Frauen, die das anbieten.

Man könnte auch sagen: Sie vermarkten, kommerzialisieren die Sexualität.

Das kann man so oder so sehen. Was wird heutzutage nicht kommerzialisiert? Und ich könnte da viel mehr verlangen als 90 Euro in der Stunde. Aber ich möchte das nicht. Wenn ich nichts verlange, habe ich mit jedem eine Beziehung. Dann kann man das nicht mehr trennen. Geld ist für mich auch ein Energieausgleich. Und manchen Behinderten fällt es ohnehin schwer, sich Raum für sich zu nehmen und die eigenen Bedürfnisse einzufordern. Das ist einfacher, wenn es eine bezahlte Dienstleistung ist.

Gerade für Behinderte, die in Einrichtungen leben, sind 90 Euro viel Geld.

Ja. Viele sparen darauf.

Wo sind ihre Grenzen in der Sexualbegleitung?

Dort, wo es gesundheitsschädlich wird. Und ich gebe keine Zungenküsse.

Einige ihrer Kolleginnen schließen Geschlechtsverkehr ganz oder teilweise aus.

Ja. Manche lassen das offen - für mich ist es dann aber keine Dienstleistung mehr. Diese Unbestimmtheit wird von Behinderten auch sehr schnell als Diskriminierung empfunden.

Müsste Ihre Arbeit vom Staat bezahlt werden - so wie in den Niederlanden oder Dänemark?

Ja. Aber nicht wie in Holland von der Krankenkasse - denn dann wäre Sexualität ja quasi eine Krankheit.

Manche Betreuer sagen, Sexualbegleitung setzt sie unter Druck, den Nutzen von Prostitution zu erklären.

Natürlich.

Den sehen sie aber womöglich nicht, gerade wenn sie in kirchlichen Einrichtungen arbeiten.

Wenn man dem Behinderten nichts sagt, dann denkt der womöglich: Für ihn gibt es sowas gar nicht. Aber man kann das nicht völlig von denen Menschen fernhalten.

Andererseits: Widerspricht es nicht dem Integrationsgedanken, spezielle Dienstleistungen für Behinderte zu etablieren?

Ja. Wenn alle Prostituierten auf der Ebene der Stärkung des Selbstwertgefühls mit Behinderten arbeiten würden, bräuchte man auch keine solche Sexualbegleitung. Das wäre wunderbar. Ich kenne aber nicht viele Behinderte, die da gute Erfahrungen gemacht haben. Es braucht eine gewisse Ordnung, wo der Mensch mit welchen Bedürfnissen hin kann. Es wäre ja auch komisch, wenn der Mitarbeiter einer Einrichtung plötzlich bei der Selbstbefriedigung hilft.

Verlieben sich die Männer, die zu Ihnen kommen, in Sie?

Natürlich kommt das vor. Ich spreche da offen über meine Gefühle. Ich hatte auch schon Beziehungen mit Körperbehinderten. Für mich schließt sich das nicht grundsätzlich aus.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.