Integration: Von Südtirol Lernen lernen

Die UNO fordert gemeinsamen Schulunterricht für Behinderte und Nichtbehinderte. Kultusminister lassen die Umsetzung geruhsam angehen. Bremen ist ganz vorn, Niedersachsen steht am schlechtesten da.

Soll überall die Regel werden: Der achtjährige Finn Labudda folgt seiner Lehrerin in der Grundschule Lübeck-Israelsdorf an einem Bildschirm-Lesegerät. Bild: dpa

Bremens Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) konnte sich gestern stolz und rücksichtsvoll zugleich zeigen. Stolz, weil dem kleinen, armen Bremen Lob und Anerkennung zuteil wird: In keinem anderen Bundesland haben Eltern bereits per Schulgesetz die Freiheit der Wahl, ob sie ihr behindertes Kind an einer Förderschule oder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern unterrichten lassen wollen. Damit hat dort Gesetzeskraft, was die seit März 2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenkonvention vorschreibt: Behinderte und Nichtbehinderte sollen gemeinsam unterrichtet werden können, auf Dauer soll es nur noch Regelschulen geben. In Bremen will man bis 2017 so weit sein.

Dass Jürgens-Pieper trotzdem anlässlich der heute dort zu Ende gehenden Fachtagung der Kultusministerkonferenz zur Umsetzung der Behindertenkonvention in den Schulen nicht mit zu großem Selbstbewusstsein auftrumpfte, hat einen einfachen Grund: Sie weiß, dass die Umsetzung auch in Bremen "noch in den Kinderschuhen steckt". Da kann man schon etwas nachsichtig sein mit anderen Bundesländern, die noch im Strampelanzug stecken. Zum Beispiel Niedersachsen: Das Land, so war es bei der Fachtagung an mehreren Stellen zu hören, bildet das Schlusslicht bei der Umsetzung der Konvention, gerade mal 4,7 Prozent der behinderten Kinder und Jugendlichen kommen in den Genuss integrierten Lernens. Niedersachsen liegt damit weit hinter dem Bundesdurchschnitt von 18,4 Prozent. Andere EU-Länder sind sehr viel weiter, die Niederlande verfehlen die 100-Prozent-Marke nur knapp, in Italien gibt es seit 30 Jahren keine Förderschulen mehr.

Es muss also einiges getan werden, in allen Bundesländern. Aber wenn betroffene Eltern als Ergebnis der Fachtagung hören, dass sich die Kultusministerkonferenz (KMK) gestern gerade mal auf ein Diskussionspapier geeinigt hat, dann ahnen sie, dass es noch Jahre dauern wird, ehe Verbesserungen spürbar werden. Und, ja, der derzeitige Präsident der KMK, Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle, bekannte dann auch, man sei "am Beginn der Umsetzung der UN-Konvention". Immerhin wurde das Papier einstimmig beschlossen.

Die UN-Behindertenkonvention wurde am 13. Dezember 2006 verabschiedet, seit März 2009 ist sie auch für Deutschland verbindlich.

Wegen einer Behinderung darf laut Artikel 24 niemand vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden.

Bislang hat allein Bremen die Konvention im Schulgesetz verankert. Wegen der Bildungshoheit der Länder gibt es in Deutschland keine einheitliche Regelung.

Eine zügige Umsetzung mahnt das Aktionsbündnis Deutscher Behindertenrat an, da nur 18,4 Prozent der Behinderten eine Regelschule besuchen. In Niedersachsen sind es nach Auskunft des dortigen Behindertenbeauftragten nur 4,7 Prozent.

In Niedersachsen, um bei dem Beispiel zu bleiben, brach über das Diskussionspapier kein Jubel aus. Es sei gut, dass sich etwas tue und das Thema endlich "zur Headline tauge", sagte Ute Wrede vom Förderverein Schule für Alle in Hannover. Sie aber kennt das Gerede aus dem dortigen zuständigen Ministerium, wonach Inklusion "in unserem Haus ein wichtiges Thema" sei. Tatsächlich passiere aber viel zu wenig. Auch knapp anderthalb Jahre nach Inkrafttreten der Konvention hätten es Eltern behinderter Kinder dort mit einem intransparenten Verfahren zu tun, wenn es darum geht, für ihre Kinder eine Regelschule zu finden. Was sie erzählt, klingt nach einem mühsamen Spießrutenlauf, der bei der Behörde beginnt, von Schule zu Schule führt und dann nach dem Fördergutachten eben doch in einer Förderschule endet.

Was Wrede aus der alltäglichen Praxis des Fördervereins berichtet, der Eltern und Schulen berät, ergänzt die schulpolitische Sprecherin der Grünen im niedersächsischen Landtag, Ina Korter, mit der Erfahrung aus dem Parlament: Vor knapp zwei Jahren hatten die Grünen einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der UN-Konvention in Niedersachsen vorgelegt, der sich am Bremer Vorbild orientiert. Vor einem Jahr gab es dazu eine Anhörung, bei der sich sämtliche Betroffenenverbände und andere Experten positiv dazu äußerten - seitdem liegt der Entwurf undiskutiert herum, als wolle die Landesregierung sich des Themas nicht annehmen.

Das Ministerium fand gestern keine Zeit, dazu etwas zu sagen; Hoffnung keimt aber bei Grünen und Betroffenen auf, nachdem der Kultusausschuss des Landtages von einer Reise nach Südtirol zurückkehrte und von dort, aus dem Musterland der Inklusion, die Bilanz mitbrachte, dass behinderte Kinder an Regelschulen gehörten. Südtirol also könnte der Sache Auftrieb geben, vielleicht auch die UNO, die 2011 nachfragen wird, wie es mit der Umsetzung der Konvention steht.

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