Menschenhandel - aus Vietnam nach Berlin: Das Elend im Schlepptau

Bis zu 10.000 Euro verlangen Schleuserbanden für einen Transport aus Vietnam nach Berlin. Hier müssen die Menschen dann ihre Schulden abarbeiten: durch illegalen Handel mit Zigaretten und durch Prostitution.

Es war eine ganz große Ausnahme: Im Winter, als es richtig kalt war, hat sich Ngoc (Name geändert) ein paar Tage freigenommen. Bei harschen Temperaturen von bis zu minus 15 Grad stellte er sich nicht mehr an "seine" Ecke in Lichtenberg, um Zigaretten zu verkaufen, sondern schlief lieber aus. "Ich wollte nicht krank werden", sagt der 21-jährige Zigarettenverkäufer. Sonst steht er bei Wind und Wetter an einer Straßenkreuzung und bietet die unversteuerte Rauchware an. Ngoc ist auf die Einnahmen angewiesen: Er hat sich für den illegalen Transfer nach Deutschland hoch verschuldet. Nun muss er die Schlepperschulden mühsam zurückzahlen.

Wie hoch die Schulden sind will der junge Mann, der auch sonst sehr wortkarg ist, nicht sagen. Aber: Seine Eltern bürgen mit ihrer armseligen Hütte in Mittelvietnam bei der Schlepperorganisation für die Schulden. Fast das gesamte Geld aus dem Zigarettenverkauf zahlt der junge Mann an die Bande. Sich selbst gönnt er dreimal am Tag etwas Reis, reichlich Tee und nur einmal oder zweimal in der Woche Gemüse und Fleisch.

Seit dem 18. November vergangenen Jahres ist die Vietnamesin Phuong spurlos verschwunden. Das Kommissariat zur Bekämpfung der organisierten vietnamesischen Kriminalität beim Landeskriminalamt Berlin hat Indizien dafür, dass sie Opfer eines Kapitalverbrechens wurde (siehe auch taz vom 11. Februar 2010).

Phuong reiste vor knapp einem Jahr illegal mit Hilfe von Schlepperbanden nach Berlin. Vermutlich hat ihre Familie sie zum Geldverdienen nach Europa geschickt. Für die Reise hatte sie sich hoch verschuldet. Irgendwann strandete sie bei ihrer Tante in Friedrichshain, betreute deren Kind und machte sich im Haushalt nützlich. Geld bekam sie dafür keins - sie konnte somit auch keine Schlepperschulden abzahlen.

Auf der Suche nach Phuong hat die Polizei im Januar zwei illegale vietnamesische Bordelle gestürmt. Phuong wurde dabei nicht gefunden, immerhin aber eine Landsfrau aus der Zwangsprostitution befreit. Auf eine Verschleppung in ein Bordell deutet auch ein Suchplakat in einem Berliner Asiamarkt hin, auf das jemand auf Vietnamesisch gekritzelt hat: "Ich habe sie gefunden. Aber ich sage nichts, damit ich sie länger benutzen kann." In derselben Schrift hat die Person zugleich Phuongs Heimatprovinz und -kreis dazugeschrieben. Wer das getan hat, muss sie gekannt haben.

Als möglich gilt auch, dass Phuong nach Großbritannien auf eine von Vietnamesen betriebene Indoor-Cannabisfarm zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. (mai)

Ngoc ist ein typischer Fall unter den nach Deutschland geschleusten Zigarettenverkäufern. In jederlei Hinsicht: Der Migrationsrat des Bezirks Marzahn-Hellersdorf erwähnt in einer Situationsbeschreibung aus dem Jahr 2005 zahlreiche Fälle von Skorbut unter vietnamesischen Zigarettenhändlern im Bezirk - eine Mangelerkrankung, die sonst nur in Hungergebieten Afrikas bekannt ist.

Die Polizei geht davon aus, dass Vietnamesen zwischen 7.000 und 10.000 Euro Schlepperkosten für die Reise nach Europa aufbringen müssen. Nur ein geringer Teil davon wird in Vietnam angezahlt. Den Löwenanteil nehmen die Flüchtlinge als Schulden mit - und werden sie über Jahre nicht los.

Nach Menschen aus Afghanistan, dem Iran und dem Irak stellen Vietnamesen die viertgrößte Gruppe von Asylbewerbern in Deutschland dar. Pro Jahr kommen etwa 1.000 Neuankömmlinge, sehr viele davon nach Berlin. Unter den minderjährigen Asylsuchenden in der Hauptstadt sind Vietnamesen seit vielen Jahren die mit Abstand stärkste Gruppe. Nur ein sehr kleiner Teil von ihnen ist tatsächlich politisch verfolgt. Die allermeisten werden von ihren Familien zum Geldverdienen nach Europa geschickt.

Sie stammen meist aus Mittelvietnam, einer Region, die unter dem globalen Klimawandel besonders stark leidet und fast jeden Herbst von einem tropischen Wirbelsturm heimgesucht wird. Viele Familien verlieren dann ihre Wohnhütte und ihr Reisfeld. Ein weiteres Problem dort: Das Grundwasser versalzt mehr und mehr. Staatliche Hilfen für in Not geratene Familien gibt es von der Hanoier Regierung so gut wie nicht.

Sogar unter den Vietnamesen, die seit vielen Jahren legal in Berlin leben und oft gut in die deutsche Gesellschaft integriert sind, erfahren die Neuankömmlinge oft Verachtung: Sie sprechen einen Dialekt, den Hanoier und Saigoner nur schwer verstehen, haben kaum Schulbildung erfahren. Über sie wird in diesen Kreisen ähnlich gewitzelt wie früher über Ostfriesen in Deutschland. Wer als ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter oder Bootsflüchtling seit Jahrzehnten hier lebt und auf eine gute Schulbildung der Kinder achtet, will von den Zigarettenhändlern am liebsten gar nichts hören. Solche Schlagzeilen würden nur dem guten Ruf der Vietnamesen schaden, heißt es immer wieder.

Die Schleuserbanden stammen aus derselben Region wie die Flüchtlinge. Das macht sie für die Opfer so gefährlich: Ist bei ihnen nichts zu holen, wird auch mal ein Familienangehöriger in Vietnam entführt, bis schließlich Geld gezahlt wird. Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel kennt auch umgekehrte Fälle: Teilnehmer ihrer Deutschkurse unter den illegal eingereisten Vietnamesen seien schon in Hohenschönhausen entführt worden, um die Verwandten in Vietnam um Geld zu erpressen, erzählt sie.

Legale Möglichkeiten, die Schlepperschulden abzuzahlen, haben vietnamesische Asylbewerber nicht. "Wir führen deshalb zahlreiche Ermittlungsverfahren wegen illegalen Zigarettenhandels, Diebstahl und Hehlerei durch", sagt Polizeisprecher Thomas Goldack. Aber auch wegen damit einhergehender Begleitkriminalität. Zwar gibt es derzeit keine Morde unter Zigarettenhändlern wie in den 90er-Jahren. Aber Messerstechereien mit schweren Körperverletzungen haben Ausmaße angenommen, die auch bei der Polizei für Erschrecken sorgen. Dabei geht es in der Regel um Schutzgelder für den Zigarettenhandel, aber auch um Schlepperschulden. "Die polizeilichen Möglichkeiten, die Geschleusten aus ihrer Abhängigkeit von den Schleuserbanden herauszubekommen, sind begrenzt, da die Vietnamesen kein Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Polizei haben", bedauert Goldack.

Zum illegalen Zigarettenhandel hat sich längst die Prostitution gesellt. Die Polizei tappt auch da oft im Dunkeln. "Wegen ihrer hilflosen Lage und des enormen finanziellen Drucks nehmen die Frauen die Ausübung der Prostitution hin und machen kaum Aussagen gegenüber der Polizei", sagt Goldack. Die Prostitution finde in "rein vietnamesischen Bordellen" statt: "Das sind ganz normale Wohnungen, in die nur vietnamesische Freier hineingelassen werden." Ein solches Bordell vermutet die Polizei etwa in der Vulkanstraße in Lichtenberg. Doch da sie nicht nachweisen kann, dass die Frauen zur Prostitution genötigt wurden, sind ihr die Hände gebunden.

Einen Fall kann Goldack dennoch erzählen: "Eine Vietnamesin kam nach Europa, weil sie gehört hatte, dass man hier gut leben und viel Geld verdienen kann. Ihr wurde erzählt, dass es in Deutschland einen Wohnheimplatz gibt und man dort monatlich 200 Euro Sozialhilfe erhält. Die Schleuser versprachen ihr außerdem, dass sie als Verkäuferin für Textilien 1.000 Euro pro Monat verdienen könne." Doch die Frau wurde von den Schleusern für 3.000 Euro an einen vietnamesischen Bordellbesitzer in Berlin verkauft. "Durch Prostitution musste sie sowohl die Schleuserkosten als auch die 3.000 Euro erwirtschaften. Ihr blieb pro Freier ein Betrag von 2,50 Euro zum Selbstbehalt."

Vor zwei Monaten wurde zudem der Fall Phuong bekannt: Die 21-Jährige, die von Schleppern nach Berlin gebracht wurde, verschwand im November 2009 spurlos. Die Polizei glaubt, dass sie entführt wurde und zur Prostitution gezwungen wird (siehe Kasten).

Sozialarbeiter kennen zudem Fälle von Prostitution auf dem Weg von Vietnam nach Berlin. Tamara Hentschel weiß von Vietnamesinnen, die sich in Vietnam als Jungfrauen auf den Weg gemacht hatten und Monate später schwanger oder mit Geschlechtskrankheiten in Berlin ankamen. "Sie sprechen oft nicht darüber, was ihnen genau passiert ist, weil sie unter Druck handelten und sich schämen."

Berlin ist für illegale vietnamesische Migranten allerdings in der Regel nicht Ziel, sondern nur Transitort, wo man einige Zeit bleiben will, um den Weitertransfer nach Großbritannien zu finanzieren. Polizeisprecher Goldack: "Auf Bestellung werden Arbeitskräfte als Gärtner auf dortige Indoor-Cannabisplantagen geschleust. Da schon nach der zweiten oder dritten Ernte die Schleusungskosten erwirtschaftet sind, werden hier enorme Gewinne erwirtschaftet."

In Großbritannien wird laut Schätzungen zwei Drittel des dort konsumierten Cannabis im Inland indoor angebaut: in ganz normalen Wohnungen, Bauerngehöften oder Lagerhallen, die zu Drogenplantagen ausgebaut wurden. In der Regel stecken vietnamesische Banden dahinter. Jugendämter in London sind zunehmend besorgt über den Handel mit vietnamesischen Kindern, die zwangsweise in Drogenhöhlen arbeiten müssen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.