Aufarbeitung der Nachkriegszeit: Der alltägliche Heimhorror

Seit einem Jahr gibt es in Bremen eine Telefonnummer, unter der sich Menschen melden können, die in den 50er und 60er Jahren in Heimen leben mussten.

Jürgen Schubert aus Aachen ist eines von vielen Heimkindern aus der Nachkriegszeit Bild: dpa

Jürgen Blandow weiß, was sie erlebt haben, die ehemaligen Bremer Heimkinder. In Heimen in Bremen und in anderen Bundesländern, in die sie das Bremer oder Bremerhavener Jugendamt verschickte.

Ehrenamtlich dokumentiert der emeritierte Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen die Geschichte der Heimkinder zwischen 1945 und 1975 im Land Bremen. 9.000, so schätzt er, wird es gegeben haben. Beauftragt hat ihn der im Mai 2009 eingerichtete Arbeitskreis "Ehemalige Heimkinder im Land Bremen", an dem neben den Jugendämtern die Träger der freien Wohlfahrtspflege beteiligt sind. Für die Dokumentation führt Blandow Gespräche mit Betroffenen, rund 70 haben sich vor allem über die Telefon-Hotline beim Amt für soziale Dienste gemeldet, 50 von ihnen waren bereit, mehr über ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse zu berichten, hinzu kommen zehn ehemalige Erzieherinnen.

Das, was die zwischen 1936 und 1961 geborenen Männer und Frauen Blandow und seinem Kollegen geschildert haben, ist der alltägliche Horror in Heimen der 50er und 60er Jahre. Wobei die schlimmsten Heime nicht in Bremen angesiedelt waren, stellt Blandow klar. Einige seien sogar - gemessen an den damaligen Verhältnissen - sehr gut gewesen. "Bremen war damals schon liberaler." So erklärt sich Blandow auch, warum vier Betroffene die Zeit im Heim als positiv erlebt haben, als "besser wie Zuhause allemal", wie es einer formulierte.

Die überwältigende Mehrheit jedoch hat schlechte Erinnerungen an die Heimaufenthalte. Immer wieder, sagt Blandow, erzählten ihm seine Gesprächspartner davon, Erbrochenes wieder aufessen zu müssen oder wegen Bettnässens vor Gleichaltrigen bloßgestellt zu werden. "Die mussten sich mit dem nassen Laken vor den anderen Kindern aufstellen." Ein Mann erzählte ihm, wie demütigend er es fand, bei Spendensammlungen für das St. Petri Heim im Bremer Dom einen Knicks machen zu müssen.

Andere sprachen - zum Teil zum ersten Mal in ihrem Leben - vom sexuellen Missbrauch durch Erwachsene oder Gleichaltrige. Oder wie sie in der Landwirtschaft arbeiten mussten, ohne den Lohn dafür zu bekommen. "Es gab Heime, da fiel die Schule immer wieder aus, weil sie stattdessen in den Garten mussten." Eine weiterführende Schule sei vielen verwehrt geblieben. "Das haben die Jugendämter aktiv verhindert, nach dem Motto ,wir haben schon so viel für dich ausgegeben, jetzt seh zu, dass du arbeiten gehst.'"

Dabei hätten die Betroffenen Prügelstrafen und andere körperliche Gewalt gar nicht als das Schlimmste empfunden, sagt Blandow. "Das waren die Demütigungen, Sprüche wie ,Du endest noch genauso wie deine asozialen Eltern', ,Aus dir wird sowieso nichts'".

Dennoch habe die Hälfte derjenigen, die sich beim Arbeitskreis gemeldet haben, "eine relativ bürgerliche Karriere" hinbekommen, so Blandow. Weitere 30 Prozent seien "mehr oder weniger durchs Leben gekommen, die steckten immer mal wieder in Schwierigkeiten, waren im Knast oder haben sich für einige Jahre prostituiert". Schwere psychische Schäden hätte ein Fünftel der Befragten davongetragenen, mit wiederkehrenden Albträumen, Panikattacken und psychiatrischen Erkrankungen.

Vom Bremer Arbeitskreis erhoffen sie sich laut Blandow Informationen über ihr eigenes Schicksal und das von Familienmitgliedern. Viele wüssten nicht, warum sie überhaupt ins Heim gekommen waren, andere suchen Geschwister oder nach der Identität ihres Vaters - nicht selten ein Angehöriger einer Besatzungsmacht. Doch helfen konnte der Arbeitskreis bisher nur vier von ihnen, da vollständige Akten erst ab 1959 vorliegen.

Viele seien auch froh, ihre Geschichte einfach loszuwerden, jemand zu haben, der ihnen zuhört, sagt Blandow. Und manche hoffen noch auf eine finanzielle Wiedergutmachung. Die Freie Initiative ehemaliger Heimkinder etwa fordert Entschädigungen, Rentennachzahlungen, Schmerzensgeld sowie Kostenübernahme für medizinische und psychologische Maßnahmen. Für Donnerstag hat die Initiative zu einer bundesweiten Demonstration aufgerufen. Bremen wird eine Entschädigung erst zahlen, wenn es dazu auch auf Bundesebene eine Einigung gegeben hat. Darum ringt am Donnerstag mal wieder der runde Tisch in Berlin.

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