Verfassungsgerichts-Präsident Voßkuhle: "Plebiszitäre Elemente sind sinnvoll"

Der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle über sein Verhältnis zu Bürgerentscheiden, Käuflichkeit bei Volksvertretern und die Fortentwicklung des Grundgesetzes.

Andreas Voßkuhle, neuer Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Bild: reuters

taz: Herr Voßkuhle, seit man Ministerpräsidenten für Gespräche mieten kann, sorgt sich Deutschland um den Ruf seiner politischen Klasse. Welche Honorare verlangen eigentlich Sie als Präsident des Bundesverfassungsgerichts für einen Vortrag vor Interessenvertretern?

Andreas Vosskuhle: Wenn ich Vorträge halte, gehört das zu meiner Amtsausübung als Verfassungsrichter. Deshalb nehme ich dafür keinerlei Honorare. Die Justiz lebt davon, dass sie vollkommen unabhängig ist. Sie muss jeden Anschein der Käuflichkeit vermeiden.

Wie halten es die anderen Richter? Gibt es am Verfassungsgericht einen Ethik-Code?

ist mit 46 Jahren der jüngste Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er wurde am Dienstag gewählt. Seit 2008 war er Verfassungsrichter, davor Rechtsprofessor und Rektor an der Uni Freiburg.

Unausgesprochen schon. Von geschriebenen Regeln halte ich in diesem Zusammenhang aber nicht so viel. Sie führen eher zur Beruhigung, wo eigentlich Wachsamkeit angebracht ist. Man kann die Nutzung von Dienstfahrzeugen regeln, aber nicht Ethos, Charakter und Persönlichkeit.

In Umfragen sagen 75 Prozent der Deutschen, sie haben großes oder sehr großes Vertrauen zum Bundesverfassungsgericht. Ist Ihnen das wichtig?

Ja. Ein gewisses Grundvertrauen der Bevölkerung ist sehr wichtig, damit im Einzelfall auch unpopuläre Urteile akzeptiert werden.

Und wie reagieren Sie, wenn die Zustimmungsrate des Gerichts unter 70 Prozent fällt?

Wir versuchen weiterhin, durch unsere Rechtsprechung zu überzeugen. An Umfragewerten orientieren wir uns dabei selbstverständlich nicht, schon gar nicht bei einzelnen Urteilen.

Das Vertrauen der Bevölkerung in Bundesregierung und Bundestag ist deutlich geringer als die Zustimmung zum Verfassungsgericht. Ist es typisch, dass Deutsche mehr Vertrauen in Richter haben als in Politiker?

Der Rechtsstaat war in Deutschland meist populärer als die Demokratie. Aber ich habe den Eindruck, dass Leistungen der Politik in der Bevölkerung durchaus anerkannt werden, zuletzt etwa der relativ erfolgreiche Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Oft profiliert sich das Verfassungsgericht auf Kosten der Politik, oder?

Nein, das ist nicht richtig. Das Bundesverfassungsgericht profiliert sich nicht, sondern unsere Aufgabe ist es, die Verfassung zu interpretieren. Allerdings nur dann, wenn wir vom Bürger, Verfassungsorganen oder auch der Politik angerufen werden.

Bei der inneren Sicherheit schicken Sie Gesetze regelmäßig auf eine Ehrenrunde. Die Politiker stehen als Deppen da, die keine verfassungskonformen Gesetze machen können. Am Ende bekommt aber die Polizei mit kleinen Korrekturen doch, was sie wollte.

Daran kann man doch auch sehen, dass der Gesetzgeber grundsätzlich gar nicht so schlecht arbeitet. Wir dürfen mit unseren Entscheidungen dem Gesetzgeber nicht den notwendigen politischen Spielraum nehmen. Das entspricht auch der Verfassung, die den schonendsten Ausgleich verschiedener Rechtspositionen verlangt.

Ist der große Gewinner in der öffentlichen Wahrnehmung nicht stets Karlsruhe?

Man sollte Einzelfälle nicht überbewerten. Das Bundesverfassungsgericht hat in 59 Jahren knapp 650 Gesetze und Verordnungen beanstandet, das ist nur ein sehr kleiner Bruchteil aller von der Politik beschlossenen Normen. Außerdem ist es auch ein großes Anliegen des Verfassungsgerichts, die Offenheit und Vielfalt des politischen Prozesses zu wahren.

Was heißt das?

Das Verfassungsgericht versucht, die Offenheit für neue politische Entwicklungen sicherzustellen. Es sichert die Spielräume des Parlaments gegenüber der Exekutive, der Opposition gegenüber der Mehrheit und der außerparlamentarischen Akteure gegenüber der etablierten Politik. Im Interesse eines offenen politischen Diskurses hat das Gericht die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit gestärkt und zu Grundrechten erklärt, die für die Demokratie "schlechthin konstituierend" sind.

Brauchen wir auch mehr Volksabstimmungen in der Politik?

Die parlamentarische Demokratie hat sich im Kern bewährt. Aber eine Ergänzung durch plebiszitäre Elemente halte ich für sinnvoll, vor allem bei Änderungen des Grundgesetzes.

Auch das dürfte vor allem dem Bundesverfassungsgericht nutzen.

Warum?

Wenn eine Grundgesetzänderung nur noch per Volksabstimmung - also eher selten - möglich ist, liegt die Fortentwicklung des Grundgesetzes vor allem in der Hand der Verfassungsrichter.

Es ist ja nichts Neues, dass das Bundesverfassungsgericht auch die Zukunftsoffenheit des Grundgesetzes sicherstellt, zum Beispiel indem es neue Grundrechte "erfindet", etwa das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. In Anlehnung an die Rhetorik der digitalisierten Welt könnte man sagen, es ist auch eine Aufgabe des Gerichts, den verfassungsrechtlichen Quellcode zu pflegen. Die Verfassung ist eben nicht nur etwas Gegebenes, sondern auch etwas - zur Fortentwicklung - Aufgegebenes.

Das heißt, die Richter definieren letztlich den Maßstab selbst, an dem sie das Handeln der anderen Staatsorgane messen? Ist Deutschland ein Richterstaat und das Verfassungsgericht der eigentliche Souverän im Staat?

Das Bundesverfassungsgericht ist sicherlich ein einflussreiches Verfassungsorgan, aber kein verdeckter Souverän. Die Richter müssen immer verfassungsrechtlich argumentieren. Sie haben dabei nicht nur den Wortlaut des Grundgesetzes zu beachten, sondern auch die bisherige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, die inzwischen 123 Bände füllt. Außerdem sind Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte ebenso zu berücksichtigen wie Urteile des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Das Bundesverfassungsgericht ist also nur ein Akteur, der im Zusammenspiel mit anderen Akteuren um verfassungsmäßige Lösungen ringt.

Das Vertrauen der Bürger hat eine Kehrseite: Die 16 Verfassungsrichter ertrinken in Arbeit. Wie lange geht das noch gut?

Wir haben derzeit rund 6.500 neue Verfahren pro Jahr. Im Augenblick ist die Funktionsfähigkeit noch gewährleistet. Wenn die Eingänge aber weiter ansteigen, ist bald die Grenze des Leistbaren erreicht. Dann muss das Bundesverfassungsgericht zwingend entlastet werden.

Wollen Sie die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde beschränken?

Nein. Zwar wäre es sinnvoll, wenn sich das Bundesverfassungsgericht auf grundlegende Verfassungsfragen konzentrieren könnte. Allerdings wäre die hohe Akzeptanz des Gerichts gefährdet, wenn Bürger nicht mehr in jedem Einzelfall das Verfassungsgericht anrufen könnten.

Sollen die Verfassungsrichter mehr wissenschaftliche Mitarbeiter erhalten?

Nein. Ein fünfter Mitarbeiter wäre keine Lösung. Sie können bei der Vorbereitung von Entscheidungen mitwirken. Jede Entscheidung muss aber von den gewählten Verfassungsrichtern selbst verantwortet werden. Die Zuarbeit hat insoweit natürlich Grenzen.

Das haben Kritiker vor der Einführung des vierten Mitarbeiters auch gesagt und jetzt funktioniert es trotzdem gut.

Mag sein. Aber damit ist der Weg der Personalaufstockung nun wirklich ausgereizt.

Wie aber wollen Sie denn dann die Verfassungsrichter entlasten?

Es gibt da verschiedene Möglichkeiten, die aber zunächst intern diskutiert und durchdacht werden müssen.

Soll der Bundespräsident im Vorfeld die Gesetze intensiver prüfen?

Das halte ich für keine gute Idee. Der Bundespräsident hat lediglich ein formales Prüfungsrecht. Nur in ganz offensichtlichen Ausnahmefällen kann er einem Gesetz wegen inhaltlicher Mängel die Unterschrift verweigern. Die inhaltliche Verfassungsprüfung von Gesetzen ist grundsätzlich Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, das hierfür über die entsprechende Organisation und das Know-how verfügt. Der Bundespräsident ist nicht unbedingt selbst Jurist und müsste sich daher auf die Zuarbeit weniger, nicht speziell legitimierter Mitarbeiter und Gutachter verlassen.

Herr Voßkuhle, was ist eigentlich Ihre persönliche verfassungspolitische Agenda, die Sie verfolgen?

Nach Karlsruhe kommt man nicht mit einer persönlichen Agenda. Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ort der individuellen Selbstverwirklichung. Es ist ein Ort der Pflicht und der Aufgabe.

Ihr Vorgänger, Hans-Jürgen Papier, hat in seinen Vorträgen oft eine Reduzierung der Staatsaufgaben angemahnt, damit der Sozialstaat auch zukunftsfähig bleiben kann. Was sind denn Ihre Ziele?

Mein Ziel ist, das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts zu wahren und zu mehren und seine Funktionsfähigkeit und die Qualität seiner Rechtsprechung zu erhalten.

Bei Ihrer Wahl vor zwei Jahren sagten Sie noch, Sie stehen den Grundpositionen der Sozialdemokratie nahe. Das muss für Sie doch irgendetwas bedeuten, oder?

Sozialdemokratie bedeutet für mich in erster Linie Sympathie und Interesse für die Nichtmächtigen in der Gesellschaft, staatliche Verantwortung für die Gemeinwohlverwirklichung, Solidarität unter den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Willen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern im Sinne einer grundsätzlichen Reformbereitschaft. Allerdings ist auch ohne Eigeninitiative kein Staat zu machen. Im Verhältnis von Staat und Bürger müssen immer beide Pole - Schutz und Freiheit - im Blick bleiben.

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