GIFTMÖRDERIN GESCHE GOTTFRIED NEU ERFORSCHT: Auch Olbers war schuld!

Gesche Gottfried ist der Bremen-Promi mit dem höchsten Gruselfaktor. Die erstmals vorgenommene Auswertung aller Gerichtsakten verweist auf gesellschaftliches Versagen

Gesche Gottfried gibt's jetzt auch als Comic. Und das Geschichtenhaus lässt Mäusebutterbrote schmieren Bild: dpa

Gesche Gottfried ist eine perfekte Projektionsfläche. Wo Heldinnen mangels historischer Gelegenheit Mangelware sind, greifen Frauenprojekte wie die früheren "Gesche online"-Seiten gern auf die Giftmischerin zurück. Aber auch rechtschaffene Kleingärtner arrangieren sich problemlos damit, die berühmteste deutsche Massenmörderin als Teil ihrer Adresse zu haben und Touristen lieben sie sowieso: "Wenn Gesche nicht da ist, sind unsere Besucher enttäuscht", sagt Ullrich Mickan vom Bremer Geschichtenhaus.

Allerdings war Gesche Gottfried, die zwischen 1813 und 1827 15 ihr nahe stehende Menschen mit arsenhaltiger Mäusebutter vergiftete und 19 weitere mit nicht-tödlichen Dosen malträtierte, weder das Empathie-heischende Opfer einer patriarchalen Umgebung, noch eine ob ihrer kaltblütigen Effizienz faszinierende Serienmörderin. Sondern primär eine psychisch kranke Frau. Heute, pünktlich zum 182. Jahrestag ihrer Verhaftung - gleichzeitig ihr Geburtstag - erscheinen zwei Bücher, die neue Perspektiven auf sie ermöglichen: Bei der Edition Temmen die erstmals vollständig vorgenommene Auswertung der Prozessakten unter dem Titel "Eine Bremer Tragödie" und "Gift", eine 200 Seiten starke "Graphic Novel" des Berliner Reprodukt-Verlags. Beide Werke basieren auf den in zwei Jahrzehnten Forschungsarbeit gesammelten Erkenntnissen des Worpsweder Schriftstellers Peer Meter.

Die Prozessakten galten lange als verschollen. Erst 1987 tauchten sie in der damaligen DDR wieder auf und gelangten dann ins Bremer Staatsarchiv. Dort jedoch interessieren sie offenbar niemanden so recht. Er habe fünf Jahre darauf gewartet, berichtet Meter, dass sich endlich ein Historiker des berühmten Stoffs annehme. Dann habe er selbst begonnen, das mehrbändige Handschriften-Konvolut zu entziffern.

Die Mühe hat sich gelohnt: Meter weist nicht nur nach, dass Friedrich Leopold Voget, auf dessen zeitgenössischer Gottfried-Biographie alle späteren Darstellungen basieren, Akten falsch zitiert, um das Bild einer aus niederer Gewinnsucht handelnden Mörderin zu konstruieren. Er konnte auch überzeugend herausarbeiten, dass Gottfrieds lange Gift-Karriere nur vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen Versagens möglich war. Meter: "Die Offensichtlichkeit, mit der sie den Leuten Mäusebutter aufs Brot geschmiert hat, schrie geradezu nach Entdeckung." Verdachtsmomente, die heute auch als Hilferufe eines zwanghaft handelnden Menschen begriffen werden könnten, seien lange ausgeblendet worden.

In diesem Zusammenhang kratzt Meter nachhaltig am Sockel von Wilhelm Olbers. Der Astronom, nach dem unter anderem das hiesige Planetarium benannt ist, war als Arzt für die Obduktion eines der Opfer zuständig. Da er sich jedoch mit einem einzigen Schnitt begnügte, missdeutete er die Todesursache - andernfalls wäre Gottfried wohl schon bei Opfer Nummer sechs überführt worden.

Nach Gottfrieds Überführung folgte die Wahrnehmung der Giftmischerin wieder einer falschen Fährte. Meter: "Das von dieser Frau zutiefst kompromittierte Bremer Bürgertum bemühte sich eilig um die Darstellung, dass ihr Treiben im Stillen stattgefunden hätte." Dem gegenüber hat Meter erstmals zahlreiche Zeugenaussagen zusammengetragen, die die vielen rechtzeitigen Hinweise auf Gottfrieds Giftmischerei belegen. Diesen Warnungen jedoch, sagt Meter, stand ihre Mitwelt "mit nachgerade unglaublicher Gleichgültigkeit" gegenüber.

Statt Gottfrieds Verhalten als krankhaft zu erkennen, versuchte man eine Rationalisierung des beispiellosen Vorgangs zu bewerkstelligen. Laut Meter vergebens: "Es gibt für keinen der Morde ein nachvollziehbares Motiv." In der Tat ist überliefert, dass Gottfried den Tod ihrer von ihr vergifteten Kinder intensiv betrauerte. In den Protokollen taucht immer wieder, auch in Bezug auf vergiftete Freundinnen und Liebhaber der Satz auf: "Einen Grund hatte ich nicht, bloß einen Trieb, es zu tun."

Der Gottfried-Prozess war der weltweit erste, bei dem sich die Verteidigung auf die Schuldunfähigkeit der Angeklagten berief - vergeblich. Das Gericht lehnte bereits den Antrag ab, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen. Lieber verließ man sich auf die eigenen Zuschreibungen. Die Projektionswut, mit der man sich der Gesche Gottfried bemächtigte, ist im Übrigen bereits vor ihrer Überführung als Mörderin zu beobachten: Sie galt in bürgerlich-biedermeierlichen Kreisen der Stadt als "Engel von Bremen" - weil sie sich so rührend um kranke Verwandte und Freunde bemühte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.