Pro und Contra: Sollen die Hartz-IV-Regelsätze steigen?

Das Urteil des Verfassungsgerichts verlangt eine neue Berechung der Regelsätze für Hartz IV. Kaum war es gesprochen, ging der Streit los, was am Ende rauskommen soll.

Eine Frage des Herzens. Bild: apn

PRO

Dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen nun bald die krawallliberale Hetze einsetzen würde, war zu erwarten. Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ließ sich nicht lange bitten. Er meinte, in der Diskussion um Hartz IV nicht nur "sozialistische Züge" wahrzunehmen, sondern schraubte sich zu der Formulierung hoch: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein."

Damit konnten offensichtlich nur die obersten Richter der Republik gemeint sein. Denn diese hatten der Politik ja ein Gesetz zurücküberwiesen, welches sie als nicht verfassungskonform einstuften. Ob diese Entscheidung nun tatsächlich zu höheren Hartz-IV-Sätzen führen wird - für Kinder, aber auch für alle anderen, denen temporär oder auf Dauer kein Erwerbseinkommen zur Verfügung steht - ist noch fraglich.

Zu wünschen ist es unbedingt. Denn was immer sich Westerwelle bei spätrömischer Dekadenz ausmalen mag: Die am demokratischen Prozess nicht mehr beteiligte "Unterschicht" (ein Begriff aus den 1980er-Jahren, geboren im Umfeld der neoliberalen Revolution von Margaret Thatcher) kann nur durch eine radikale Reform des Sozialstaats zurückgewonnen werden.

Bei der letzten Bundestagswahl gaben lediglich 70 Prozent der Bürger ihre Stimme ab - das war die niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik. In den ostdeutschen Ländern lag die Wahlbeteiligung sogar bei nur 64 Prozent. Damit ist die ebenfalls in den Achtzigerjahren viel beschworene Zweidrittelgesellschaft Realität geworden. Doch ein Gemeinwesen, das an seine eigene Zukunft glaubt, darf sich damit nicht abfinden. Eine deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Sätze ist daher dringend geboten.

Lange aber wird sich die Gesellschaft nicht mehr der Einsicht verschließen können, dass Erwerbsarbeit und Einkommen entkoppelt gehören. Denn wer soziale Sicherheit im 21. Jahrhundert nur nach kafkaesken Bedarfsprüfungen garantieren und auf eine Grundversorgung reduzieren will, liegt falsch.

AMBROS WAIBEL

ist Meinungsredakteur der taz

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CONTRA

Nein, das Arbeitslosengeld II reicht zur Existenzsicherung aus und sollte nur inflationsbedingt steigen. Hartz IV sollte nicht dafür da sein, um armen Kindern Schulbücher zu kaufen und ihre Nachhilfe zu finanzieren. Damit würde der Staat nämlich nur mittelbar die Nachhilfeindustrie und die Buchverlage sponsern.

Es bringt nichts, den Armen mehr Geld zu geben, damit die sich damit den Zutritt zur Gesellschaft erkaufen. Denn die Preise werden immer schneller steigen als die Hartz-IV-Sätze. Gesellschaftliche Teilhabe lässt sich nur erreichen, indem man den Zugang vor allem zu Bildung und Kultur rigoros senkt. Armut bedeutet bei uns eben nicht, zu hungern oder sich in Lumpen zu kleiden, sondern entspricht oft dem, was Soziologen als "Bildungsferne" bezeichnen.

Gerade für Kinder aus solchen Schichten ist es entscheidend, sie früh über die Bildung in die Gesellschaft zu holen. Nicht nur, indem man Schulen zu Ganztagsschulen umbaut und sie mit Geld, ErzieherInnen und LehrerInnen ausrüstet, damit private Nachhilfe überflüssig wird. Bildung sollte zur öffentlichen Daseinsfürsorge gehören und so gut wie kostenlos sein. Denn auch die Mittelschichten ächzen ja unter den finanziellen Aufwendungen für Nachhilfe, Klavier und Schulmaterial.

Also: Geigenunterricht für alle. Der Staat sollte Musikschulen fördern, damit die Stunde dort nicht mehr 40 Euro, sondern höchstens 2 Euro kostet. Eine Family-Flatrate für Museen, Theater und Schwimmbäder? Nur zu. Und wieso sollte der Reitunterricht für Kinder mehr als 5 Euro kosten? Dann hätten die Agrarsubventionen für deutsche Bauernhöfe wenigstens mal einen gesellschaftlichen Sinn.

Das ist alles unbezahlbar, werden Kritiker einwenden. Ja, wenn man in der herrschenden Logik bleibt und sich darüber streitet, ob den Armen nun 10,30 oder gar 11 Euro mehr zustehen. Lieber sollte man sich fragen, wie man die richtig Reichen dazu bekommt, mehr zum Gemeinwesen beizusteuern. Das oberste Zehntel der Gesellschaft verfügt immerhin über fast die Hälfte des Gesamtvermögens. Diese Debatte würde sich lohnen.

ANNA LEHMANN

ist Bildungsredakteurin der taz

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