Lebendig begraben: Medine ist tot, die Türkei entsetzt

Die 16jährige Medine Memi wurde von den Männern der eigenen Familie begraben, weil sie sich nicht fügte. Vergeblich hatte sie zuvor Schutz gesucht. Ihr Fall erregt das Land.

Die Leiche der 16-jährigen Medine Memi wurde in einer zwei Meter tiefen Grube aufgefunden, in sitzender Position. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Das Schicksal der 16jährigen Medine Memi erschüttert die Türkei und macht die Dringlichkeit ernsthafter Maßnahmen für eine Gleichstellung der Frau in drastischer Weise deutlich. Die Leiche des Mädchens wurde in einer zwei Meter tiefen Grube aufgefunden, in sitzender Position. Die Autopsie ergab, daß Medine lebendig begraben wurde. Der Vater und der Großvater wurden verhaftet. Das ereignete sich im Südosten der Türkei, in der Nähe der Stadt Adiyaman. Es ist der schlimmste bekanntgewordene "Ehrenmord" der türkischen Geschichte.

Medine war das dritte Kind einer Familie mit insgesamt zehn Kindern. Sie hat nie eine Schule besucht. Ihr Vater Ayhan (40) betreibt eine Bäckerei, die Großeltern väterlicherseits wohnen in dem selben Haus. Der Großvater Fethi (65) ist der Patriarch, sein Wort ist Gesetz. Er gehört laut Recherchen des Massenblatts Hürriyet der Sekte der Menzil an, einem mystischen Abzweig des großen Naqschibendi-Ordens. Jeden Freitag abend wird eine mystische Messe gefeiert. Trotz der augenscheinlichen religiösen Ausrichtung sind die Männer der Familie als Schmuggler bekannt: Sie sollen illegal mit Tee, Zigaretten und türkischem "Kölnischen Wasser" handeln. Ihre Nachbarn meiden sie. Sie führen ein abgekapseltes Leben.

Medine werfen ihre Angehörigen vor, daß sie "mit Jungen redete". Jeden Tag hallen Schreie aus dem Haus. Sie ist fromm, liest aus dem Koran, fastet, betet. Und guckt fern, vor allem Krimis, mag die Serie "Arka Sokaklar". Da ereignet sich auf den Straßen Istanbuls Mord und Totschlag, da gibt es einen väterlichen Kommissaren, den Riza Baba, im Stil des "Alten" löst er jeden Fall.

Medine ist mutig. Sie geht zur Polizei, viermal. Allen spricht sie von Riza Baba, sagt, die Polizei ist dafür da, daß sie uns alle beschützt. Die Beamten ermutigen sie: "Hab keine Angst, solange wir da sind, kann dir niemand etwas antun. Wir sind der Staat."

Im Hause ist der Großvater der Staat. Er kann es nicht fassen, daß ihre Enkelin ihn anzeigt. Beim letzten Streit setzt er ihr eine Pistole an den Kopf. Sie flieht. Noch während sie auf der Wache sitzt, stürmen die Polizisten das Haus und finden ein Jagdgewehr und einen automatischen Revolver, tschechische Schmugglerware. Der Großvater kommt vor Gericht, seine 10monatige Haft wird in eine Geldstrafe von 250 Euro umgewandelt.

Daraufhin verschwindet das Mädchen spurlos. Als Nachbarn fragen, sagt der Vater, sie sei ausgerissen. Monatelang tut sich nichts. Bis die Polizei ein anonymer Hinweis erreicht. Es wird in dem hoch ummauerten Innenhof gegraben, neben dem Hühnerstall. Medines Leiche sitzt unter der Erde. Ihre Lungen und ihr Magen sind mit Erde gefüllt. Sie war bei Bewusstsein, als die Grube mit ihr darin zugeschüttet und zubetoniert wurde.

Ihr Tod bewirkt einen Wandel bei ihrer Mutter Immihan, die an dem Tag nicht zuhause war. Die Männer sprechen von einem Unfall, Medine sei gefallen, man habe sie in Panik begraben. Immihan fragt: "Warum haben sie sie nicht sofort zum Krankenhaus gebracht? Sie haben mein Kind getötet. Ihre Strafe sollen sie bekommen." Dass es sich um eine vorsätzliche Tat handelt, belegt die Tatsache, daß ihre Hände im Rücken gefesselt waren.

Jetzt liegen im türkischen Parlament Anfragen der sozialdemokratischen Republikaner und der kurdischen Partei BDP vor. Warum wurde Medine nicht in ein Mädchenheim gebracht, warum nicht zwangsweise eingeschult? Im Fernsehen läuft eine Diskussion nach der anderen: Die feudalen Verhältnisse auf dem Land, die rauhen Sitten, das Patriarchat, je nach Standpunkt der fehlende oder zu große Einfluß der Religion - alles kommt auf den Tisch.

Laut Statistik nimmt in der Türkei die Frauenbeschäftigung ab, und die allgemeine konservative Atmosphäre lässt die staatlichen Maßnahmen zur Einschulung der Mädchen ins Leere laufen, heißt es in den Diskussionen. Man redet und redet, bis man zur Werbung übergeht.

Die Nachbarn sagen: "Sie war dunkelblond mit ausgeprägten Backenknochen und einer kleinen, feinen Nase. Ein hübsches Mädchen." Die Zeitung Hürriyet sucht zur Ausgestaltung ihrer Reportage ein Bild von Medine. Es existiert kein einziges Foto von ihr.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.