Historiker Paul Nolte über Schwarz-Gelb: "Keine neoliberale Neuerfindung"

Paul Nolte fordert von Schwarz-Gelb höhere Steuern und kritisiert den FDP-Stufentarif als "leistungsfeindlich". Von Kanzlerin Merkel wünscht er sich, dass sie eine politische Zielvorstellung formuliert.

"Wäre der Start der Regierung überzeugender gewesen, hätte sie damit stärker polarisiert." Bild: rtr

taz: Herr Nolte, Sie gelten als Freund bürgerlichen Regierens. Sind Sie nach hundert Tagen glücklich mit Schwarz-Gelb?

Paul Nolte: Ich habe immer für eine bürgerliche Gesellschaft plädiert, nicht für eine bürgerliche Regierung. Natürlich war der Beginn sehr holprig. Aber ich sehe das pragmatisch, einen glanzvollen Start hat man selten erlebt. Die Kanzlerin bleibt dieselbe, sie kann und will mit ihrer ersten Amtszeit nicht brechen.

Die ermäßigte Hotelsteuer genügt für den Neustart nicht?

Das Problem liegt tiefer. Zweimal hat Schwarz-Gelb die sicher geglaubte Mehrheit verfehlt, 2002 und 2005. Jetzt sind sie an der Macht, aber ihre Programmatik von damals kann nicht mehr zum Zuge kommen. Für Angela Merkel ist das keine Überraschung, für die FDP schon.

Sie meinen die geistig-politische Wende, von der Parteichef Guido Westerwelle redet?

Das ist ein allzu offensichtlicher Rückgriff auf die Parole von 1982. Es ist kein Zufall, dass man Koalitionen heute nur noch durch die Aufzählung der Farben beschreibt. Es gibt keine Konstellation mehr, die euphorisch einen Zeitgeist verkörpert wie in den Siebzigern die sozialliberale Regierung. Wir erleben einen neuen Zentrismus. Es ist nicht mehr so wichtig, wer regiert.

Paul Nolte ist 46 Jahre alt, Historiker und Publizist. Er lehrt seit 2005 Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft. Mit seinem Buch "Generation Reform" (2004) gehörte er zu den Wortführern der Reformdebatte. Paul Nolte gilt als Befürworter von Schwarz-Grün. Im September 2009 erschien von ihm "Religion und Bürgergesellschaft".

Ist die FDP darum überrascht?

Sie hat bei wichtigen Fragen blinde Flecken. Mit der Innen- und Rechtspolitik ist es ihr gelungen, über das Profil einer reinen Steuersenkungspartei hinauszukommen. In der Gesellschaftspolitik herrscht noch Ödnis.

Steuern senken und Schulden machen: ist das bürgerlich?

Das ist der Punkt, der mich in den vergangenen hundert Tagen am meisten erschüttert hat: die Bereitwilligkeit, mit der die neue Regierung in diese Rekordverschuldung geht. Ich dachte, wir hätten in den letzten Jahren dazugelernt - dass Staatsschulden eine Last sind, dass wir nicht in jeder Krise sagen können, dieses eine Mal machen wir noch eine Ausnahme. Da erleben wir ein wirkliches Rollback.

Aber wir haben doch die Schuldenbremse?

Das genügt nicht. Eigentlich müsste der Haushalt sofort ausgeglichen werden, und wir bräuchten einen Plan, wie wir Schulden auch wieder zurückzahlen. Das geht nicht ohne Steuererhöhungen. Wenn wir uns im Jahr 2010 mit 85 Milliarden Euro zusätzlich verschulden, dann müssten wir diesen Betrag in den Folgejahren auf Unternehmen und Bürger umlegen. Das wäre solide Finanzpolitik.

1.000 Euro pro Person als eine Art Kopfpauschale?

Nein. Mir ist klar, dass ich als Universitätsprofessor wesentlich mehr bezahlen muss als meine Sekretärin. Die Last sollte sich auf alle Steuerarten verteilen, auch auf die Unternehmensteuern.

Geht das mit dem Stufentarif, den die FDP propagiert?

Diese Forderung habe ich noch nie verstanden. Der geltende linear-progressive Tarif hat sich seit mehr als hundert Jahren bewährt. In dem System liegt eine elementare Gerechtigkeit: Wer mehr erübrigen kann, zahlt mehr. Und zwar ohne leistungsfeindliche Sprünge wie im FDP-Konzept. Umso mehr würde ich mir wünschen, dass Unionspolitiker den Mund aufmachen und das geltende System offensiv verteidigen - statt immer nur kleinlaut zu behaupten, das Stufenmodell sei zwar gut, aber leider nicht finanzierbar.

Es gibt bei der Steuer keinerlei Reformbedarf?

Einige Ausnahmen wie die Pendlerpauschale könnte man schon abschaffen. Da denke ich aber nicht mehr so puristisch wie noch vor einigen Jahren. Die Vereinfacher sollten sich vor Augen führen: Es hat eine Logik der Gerechtigkeit, wenn bestimmte Lebensumstände wie körperliche Einschränkungen oder familiäre Situation berücksichtigt werden.

Die Kopfpauschale im Gesundheitswesen wäre also Unsinn?

Anders als im Steuersystem, wo die FDP eine reine Geisterdebatte führt, brennt es bei der Gesundheit wirklich. Die Kosten laufen jeden Tag davon. Um ein Mehrsäulenmodell wie bei der Rente werden wir nicht herumkommen, mit einer gesetzlichen Grundversorgung und privaten Zusatzelementen.

Dann sterben die Armen früher?

Die Armen sterben leider auch im jetzigen System schon früher. Natürlich braucht es staatliche Vorgaben, was in einen Basistarif hineingehört. Bei Leistungen wie Zahnersatz, Kuraufenthalten oder Tagegeld sehe ich aber Spielraum. Von amerikanischen Verhältnissen sind wir weit entfernt. Dass man in der Notaufnahme die Kreditkarte vorweisen muss, liegt sicherlich auch außerhalb des Denkhorizonts eines FDP-Gesundheitsministers.

Macht die FDP Klientelpolitik?

Ich halte das eher für Unbeholfenheit. Natürlich bedient jede Partei die Interessen ihrer Klientel, nur haben sich die Zielgruppen gewandelt. Die Konsumenten sind heute die eigentliche Klientel, deshalb war die Abwrackprämie parteiübergreifend so erfolgreich. Vielleicht hat die FDP das noch nicht verstanden.

Das klingt, als wäre die FDP an allem schuld, und die Kanzlerin schaut zu.

Ich würde mir wünschen, dass die Regierungschefin eine politische Zielvorstellung formuliert. Nicht als Verheißung einer aufgehenden Sonne wie in den Utopien des 20. Jahrhunderts. Aber doch als Versuch, Themenfelder zu bündeln und eine Richtung vorzugeben. Da ist sie skeptischer, als sie es nach meinem Eindruck sein müsste.

Welche Richtung sollte das sein?

Es geht vor allem um Gesellschaftspolitik, im Sinne von Aufstiegschancen und sozialer Integration. Da hat man von der neuen Familienministerin noch nicht viel gehört. In der Bildungspolitik hat es den großen Durchbruch nicht gegeben, wie er auf dem Arbeitsmarkt mit Hartz IV gelungen ist. Das ist eine Leerstelle, die auch mit dem Föderalismus zu tun hat.

Die Kanzlerin hat vor den Ministerpräsidenten kapituliert, weil sie deren Zustimmung für die Hotelbetten brauchte.

In der Bildungspolitik kommt die Dynamik eindeutig von unten, aus der Bevölkerung heraus. Das muss an sich nichts Schlechtes sein. Denken Sie an die Studentenproteste oder an den Schulstreit in Hamburg.

Trotzdem: Die versprochene Bewegung in der Gesellschaftspolitik bleibt bislang aus.

Sie hat in der CDU längst stattgefunden. Angela Merkel hat die Partei schon jetzt mindestens so sehr revolutioniert wie Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf in den Siebzigerjahren. Das gilt auch für den zweiten großen Handlungsbereich, die ökologisch-technologische Erneuerung. Auch hier ist übrigens eine seltsame Blindstelle der FDP.

Hätte Angela Merkel besser mit den Grünen regiert?

In manchen Fragen hätte Schwarz-Grün eine größere Schnittmenge gehabt, das stimmt. Aber das Wahlergebnis lässt das nun mal nicht zu, und ein Projekt wäre auch diese Kombination nicht mehr gewesen. Diese Zeiten sind vorbei. Heute muss es in jeder politischen Konstellation möglich sein, die großen Zukunftsaufgaben zu bearbeiten. Auch wenn sich die Antworten im Einzelnen dann unterscheiden.

Viele Leute sind entsetzt über den Fehlstart der Regierung. Bekommen wir eine neue politische Polarisierung?

Ganz im Gegenteil. Wäre der Start der Regierung überzeugender gewesen, hätte sie damit stärker polarisiert. Womöglich hätte man dann wirklich von einer geistig-moralischen Wende gesprochen. So aber dominiert die Selbstkritik im konservativen Lager. Die neoliberale Neuerfindung Deutschlands findet nicht statt. Es wiederholt sich ein fundamentales Muster aus sechs Jahrzehnten Bundesrepublik, die erstaunliche Kontinuität auch über Regierungswechsel hinweg.

Die Krise ändert daran nichts?

Welche Krise? Die meisten Menschen haben davon doch nichts bemerkt, außer dass jetzt ein neues Auto vor der Tür steht. Um es brutal zu sagen: Vielleicht wäre es nötig gewesen, dass die Leute die Krise stärker spüren, indem man etwa die Rechnung in Form von Steuern präsentiert. Als Konsumenten und Steuerzahler wurden die Menschen über die Kosten der Krise getäuscht.

Die Panik war übertrieben?

"Übertrieben" ist der falsche Ausdruck. Die Finanzkrise war Realität, das unterscheidet sie von der Panik wegen der Schweinegrippe. Das Problem sind die Gegenmaßnahmen. Die Kurzarbeit war richtig, die Abwrackprämie war falsch. Das ist aber ein Grundproblem von Politik in Konsumentengesellschaften.

Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen werden die Grausamkeiten aber kommen?

Ich wüsste nicht, welche das sein sollten - außer Steuererhöhungen. Aus der Logik der Unionsparteien, die auf eine Politik der Kontinuität setzen, ist ein fundamentaler Bruch gar nicht vorstellbar. Es wird sich allenfalls in kleinen Schritten etwas ändern. Nach einem Jahrzehnt, das uns viele Veränderungen und Umbrüche beschert hat, gibt es ein starkes Konsolidierungsbedürfnis in der Bevölkerung. Die Stimmungslage ist: Lasst uns das Rad bitte nicht schon wieder neu erfinden!

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