Juristin über AKW-Laufzeitverlängerung: "Der Staat verletzt seine Schutzpflicht"

Die Rechtsexpertin der Deutschen Umwelthilfe, Cornelia Ziehm, geht davon aus, dass die drohende AKW-Laufzeitverlängerung vom Verfassungsgericht gestoppt werden kann.

"Kein Grund, jetzt ohne Not zusätzlichen Atommüll zu produzieren": Atomkraftwerk Grafenrheinfeld. Bild: dpa

taz: Frau Ziehm, eine gesetzliche Verlängerung der AKW-Laufzeiten verstoße gegen das Grundgesetz - das schreiben Sie in Ihrem Gutachten für die Deutsche Umwelthilfe. Warum?

Ziehm: Der Staat verletzt seine Schutzpflichten, wenn er die Produktion weiteren Atommülls zulässt, obwohl es noch keinerlei Lösung für die Endlagerung hochradioaktiven Abfalls gibt.

taz: Warum fordern Sie in Ihrem Gutachten nicht den sofortigen Ausstieg aus der Atomkraft?

Ziehm: Als Rot-Grün ab 1998 den Atomausstieg umsetzen wollte, wäre ein Sofortausstieg - unter anderem wegen der fehlenden Atommüll-Entsorgung - eigentlich rechtlich geboten gewesen. Dass dann lediglich Restlaufzeiten pro Reaktor festgelegt wurden, war Ergebnis einer Abwägung zwischen widerstreitenden Grundrechten. Auf der einen Seite standen die Schutzrechte der Bürgerinnen und Bürger, auf der anderen Seite das Recht der AKW-Betreiber, ihre Reaktoren unbefristet zu betreiben. Jede weitere Verlängerung der Laufzeiten ist nun aber verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen.

taz: Wo findet man die staatlichen Schutzpflichten im Grundgesetz?

Ziehm: Sie werden aus den Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger abgeleitet - konkret aus den Grundrechten auf Leben, Gesundheit und Eigentum. Die Menschen haben nicht nur Abwehrrechte gegen staatliche Maßnahmen. Sie haben auch den Anspruch, dass der Staat sie vor Gefahren schützt, die von privaten Unternehmen ausgehen. Seit 1994 verlangt das Grundgesetz außerdem den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch für künftige Generationen.

taz: Das Bundesverfassungsgericht lässt dem Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten bisher einen großen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Wollen Sie, dass künftig Verfassungsrichter Energiepolitik machen?

Ziehm: Nein, aber die Richter können nicht wegschauen, wenn der Staat seinen Pflichten über Jahrzehnte nicht nachkommt. Eine tragfähige, dauerhafte Entsorgungslösung ist heute - mehr als ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Atomgesetzes - nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Perspektiven wurden in den letzten Jahren sogar noch zweifelhafter. Da kann man ja wohl kaum zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen.

taz: Und was ist mit dem Gestaltungsspielraum der Politik? Die Bundesregierung glaubt, dass die Schutzpflicht schon durch eine sichere Zwischenlagerung erfüllt ist - bis es irgendwann doch noch eine Endlagerung gibt...

Ziehm: Das 'Prinzip Hoffnung' ist hier fehl am Platz. Es ist ja völlig unklar, ob es überhaupt je ein tragfähiges Endlagerkonzept geben wird. Der Gestaltungsspielraum der Politik endet dort, wo Schutzpflichten dauerhaft verletzt werden.

taz: Wenn man das Desaster im Atommülllager Asse II betrachtet, war es vielleicht ganz gut, dass man nicht schon in den 70er-Jahren mit der Endlagerung von Brennstäben angefangen hat...

Ziehm: Mag sein, Aber das ist kein Grund, jetzt ohne Not zusätzlichen Atommüll zu produzieren.

taz: Wer könnte in Karlsruhe gegen eine gesetzliche Verlängerung der Laufzeiten klagen?

Ziehm: Einen Antrag auf Normenkontrolle könnte jede Landesregierung oder ein Viertel der Bundestagsabgeordneten stellen.

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