Polemik gegen Hartz IV-Kinder: Klassenkampf der Bildungsbürger

Publizisten greifen in der Schulreform-Debatte "Hartz-IV-Kinder" an: Bildung sei für sie "objektiv wertlos". Nur das Geplärr von Sonderlingen? Nein, ein neues Gesellschaftsbild.

Hartz IV-Schülerin oder Bildungs-Oberschicht – was wird hier gespielt? Bild: dpa

Im Jahr 1828 griff Franz Georg Ferdinand Schläger zur Feder. Der Pfarrer, der sich zugleich als Journalist betätigte, rief zu einer umfassenden Bildungsreform im Königreich Hannover auf. Aber Schläger warnte zugleich, dass zu viele junge Leute den Drang nach höheren Schulen verspüren könnten. Also verfasste er eine Abhandlung mit dem Titel: "Wie kann man das Zudrängen zum Studieren am besten hemmen?"

Schlägers Programm war das des Bürgertums der damaligen Zeit. Bildung ja - aber bitte nicht für zu viele, nicht um Klassenschranken zu überwinden. Adlige, Staatsbeamte und andere angestammte Kunden der höheren Bürgerschule vertraten ein zwiespältiges Projekt. Sie forderten verbesserten Zugang für ihre Söhne und Töchter auf Gymnasien und Hochschulen. Gleichzeitig blockierten sie für andere Stände aktiv den Zugang zu höherer Bildung.

Knapp 200 Jahre später ist es wieder so weit. "Eine Abiturientenquote von 60 Prozent eines Jahrgangs ist in Wirklichkeit nur ein fauler Trick, eine Manipulation der Statistik." Wenn sie durch Absenkung des Niveaus erreicht werde, dann "hat weder der Arbeitsmarkt noch der Abiturient etwas davon". Autor dieser Sätze ist Harald Martenstein. Der Kolumnist des Berliner Tagesspiegels hat das Schläger'sche Mantra wenig aktualisiert. "Jeder soll eine Chance auf Bildung bekommen, sage ich heute, aber er muss sie auch nutzen."

"Eltern kämpfen für das Beste ihrer Kinder - das Wohl anderer Kinder wird ihnen egal sein - völlig zu Recht."

"Bildung ist für zehn oder fünfzehn Prozent der Bevölkerung objektiv wertlos geworden."

(Harald Martenstein)

Martensteins Text war als Konter gegen die Berliner Schulreform gedacht, genauer: gegen die Sekundarschule, die Hauptschulen und Realschulen schrittweise vereinen wird. Tatsächlich ist aus dem Stück ein neokonservatives Manifest geworden. Nur, Martenstein ist beileibe nicht der Einzige, der im Jahr 2010 eine Schulstruktur aus dem frühen 19. Jahrhundert idealisiert.

Aktion gegliederte Schule

Gerade hat sich in der Hauptstadt ein "Aktionsbündnis gegliederte Schule" gegründet - gleichfalls gegen die Sekundarschule gerichtet. Darin tummeln sich Figuren wie Kathrin Wiencek. Die Berliner Bannerträgerin des Philologenverbands warnt davor, Kinder aufs Gymnasium zu entsenden, die dort nicht mitkommen: "Denen versauen wir nur die Kindheit", sagt sie. Den Protagonisten der Aktion missfällt, dass inzwischen jeder sein Kind aufs Gymnasium schicken wolle. "Die Eltern machen ihre Kinder fertig - quer durch alle Schichten. Sie fordern Einser und Zweier, wo keine sind", will der Chef der Brandenburger Oberlehrer, Werner Lindner, beobachtet haben.

Hassobjekt sind Bildungsreformen, die auch vor den Schulstrukturen des 19. Jahrhunderts nicht haltmachen. Nach Pisa deckelten die Kultusminister der Länder einige Jahre erfolgreich die Schulformfrage. Inzwischen aber gibt es kein Halten mehr. Nach Schleswig-Holstein machen sich die Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin daran, das Schulartenchaos zu sortieren. Neben dem Gymnasium wird es künftig nur noch eine weiterführende Schulart geben. Sie versucht, das frühe Sortieren der Kinder mit zehn Jahren zu vermeiden. Und sie enthält stets ein Programm eines gänzlich neuen Lernens.

Schon drängen weitere Länder Richtung Zweigliedrigkeit. Saarland und Thüringen verlängern die Grundschulzeit, fusionieren Schulformen oder versuchen sich an der Neuauflage der Gesamtschule. Sie heißt Gemeinschaftsschule und will den Geburtsfehler der Pseudogesamtschulen überwinden: die Aufteilung der Schüler in Leistungsgruppen ab der siebten Klasse, die Auslese in sogenannte A- oder E-Kurse. Die Gemeinschaftsschulen machen damit Schluss - und praktizieren ein neues pädagogisches Programm individuellen Lernens. Da gibt es spektakuläre Erfolge. Etwa die neue Gemeinschaftsschule in Berlin-Pankow, die einen regelrechten Ansturm des bildungsbürgerlichen Publikums erlebt.

Sogar die Frankfurter Allgemeine, bisher Zentralorgan der gegliederten Schule, widmete der Pankower Gesamtschule2.0 eine ganzseitige Eloge. Etwas Interessantes ist dabei zu beobachten: Jenseits der Schützengräben des 30-jährigen Krieges um Schulformen üben die neuen Lernformen eine ungeheure Faszination aus: Bereits Erstklässler lernen in den neuen Schulen selbstständig und individuell. Sie haben dazu viel mehr Zeit, weil in der Freiarbeit der handelsübliche frontale Fächerunterricht kaum mehr vorkommt. Bei den Stars unter den neuen Schulen, der Max-Brauer-Schule in Hamburg oder dem Schulpreisträger der Robert-Bosch-Gesamtschule Hildesheim, sind zudem große Lern- und Expeditionsprojekte zu bestaunen.

Sexappeal neuen Lernens

Allerdings ist der Sexappeal der neuen Schulen noch nicht bei allen angekommen - zuletzt bei den Eltern. Sie avancieren zu den neuen smarten Gegnern der Schulreform: Das reiche Hamburger Bürgertum etwa, vor Kurzem noch als Gucci-Protestler geschmäht, hat in der Hansemetropole sagenhafte 180.000 Unterschriften gegen das Verlängern der Grundschule gesammelt. An seiner Spitze stehen Anwälte wie Walter Scheuerl sowie Medienprofis, die den Unterschriftensammlern Erfolgshonorare bezahlt haben).

In diesen Tagen verhandelt dieses extrem selbstbewusste Bürgertum mit dem Staat, wie die Schulreform weitergehen kann. Scheitern die Gespräche, wird der neue Volkstribun Scheuerl zu einer Volksabstimmung aufrufen. Wäre sie erfolgreich, so würde Hamburg zum Stalingrad der Schulreformer: Wenn die Bürger eines Bundeslandes eine sechsjährige Grundschule per Plebiszit verbieten, dann ist dieser Reformweg auf Jahrzehnte verbaut.

Der Beitrag Harald Martenstein bringt indes eine völlig neue Qualität in die Debatte. Die Hamburger Initiative heißt positiv "Wir wollen lernen", sie trägt also das "Ohne Schmuddelkinder" als nur gefühlten Unterton in der Parenthese. Martenstein dagegen erklärt offen den Klassenkampf: "Bildung ist für zehn oder fünfzehn Prozent der Bevölkerung objektiv wertlos geworden", schreibt er. Dauerarbeitslose verhielten sich rational, wenn sie ihre Lebensfreude im Alkohol oder auch in der Kriminalität suchten. Und dann dieses: "Eltern, die ihre Elternschaft ernst nehmen, werden immer für eine möglichst gute Ausbildung ihrer Kinder kämpfen, gesellschaftliche Probleme und das Wohl anderer Kinder werden ihnen vergleichsweise, und völlig zu Recht, egal sein."

Man muss den Satz entschachteln, um seine Sprengkraft zur Geltung zu bringen. Da steht: Ihr Hartz-IV-Empfänger, für die Bildung objektiv wertlos ist, mit euren Kindern wollen wir nix zu tun haben!

Nun zu sagen, das seien Phrasen eines reaktionären Wirrkopfs, wäre ein bisschen einfach. Ist Martenstein doch der aktuelle Lionel Messi unter den Schönschreibern. Er dribbelt, zum allgemeinen Entzücken, die witzigsten Kolumnen des Intelligenzblattes Die Zeit. Seine Fangemeinde ist riesig. Man muss ihn ernst nehmen - und genau das macht den Schock der gepflegten Sonntagslektüre aus. Dass Martenstein nicht nur eine Gruppe als Hartz-IV-Kinder isoliert - und sie praktisch für verloren erklärt.

Als vor drei Jahren ein Rektor seine Schule in eine Hartz-IV-Schule umwandelte, die Sechstklässler auf Sozialhilfe und Arbeitslosigkeit vorbereitete, ging ein Aufschrei durchs Land. Martenstein schreibt den ideologischen Überbau für die Hartz-IV-Schule. Leitmotiv: "Jetzt braucht man bei uns das Proletariat nicht mehr, die Mühen der Erziehung sind sinnlos geworden." Und eine liberale Hauptstadtzeitung gibt eine ganze Seite für die konservative Propaganda her.

Das ist nicht das Geplärr von Sonderlingen der Schulformdebatte und nicht der glattgebügelte PR-Coup der Hamburger Oberschicht - das ist ein neues Gesellschaftsbild. Martenstein redet eine Art zementierter Schichtgesellschaft herbei, ein fest gefügtes Oben und Unten. Er hält sich gar nicht weiter mit Freiheit, Gleichheit oder dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes auf - er erklärt die Klassengesellschaft zum Status quo.

Martenstein überholt damit sogar noch das politikvergessene Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts. Unsere Vorfahren haben niemals eine erfolgreiche politische Revolution bestanden - und damit zugleich den Initiationsritus einer demokratischen "Schule für alle" verpasst. Überall in Europa hat der Staat die Schule der frühen Industriegesellschaft an sich gezogen. Genauso in Preußen und Deutschland, allerdings wurde hierzulande die Schule nur verstaatlicht - aber nicht demokratisiert. Das Bildungsbürgertum ließ sich dafür entschädigen, indem der Staat ihm das Recht auf höhere Schule praktisch reservierte. Deswegen begreift ja das Bürgertum das Gymnasium immer noch als sein naturrechtliches Privileg -wo der Pöbel nichts zu suchen hat.

Man muss nicht den Untergang des Abendlandes befürchten. Noch hat Martenstein keine Mehrheit, und es gibt sogar Gegenstimmen. In einem Interview hat Hamburgs Oberbürgermeister Ole von Beust (CDU) in der Süddeutschen Zeitung zum Thema Schule erklärt, "dass unser jetziges System falsch ist". Seine Dreiteilung passe nicht in die Zeit. "Dieser alte bildungspolitische Ansatz, wonach es drei Grundtypen gibt - den handwerklich Begabten mit wenig Intellekt für die Hauptschule, den mäßig handwerklich Begabten mit mehr Intellekt, der auf die Realschule geht, und den wenig handwerklich begabten, aber intelligenten Schüler, der Abitur macht - diese Dreiteilung ist Ausdruck veralteten, ständischen Denkens", sagte von Beust.

Klar, von Beust muss zur schwarz-grünen Koalition stehen. Aber er macht ja viel mehr. Er kuscht nicht vor 180.000 Unterschriften, sondern stellt sich in den Wind: Er erklärt den Umbau einer Schule des 19. Jahrhunderts zum Modernisierungsprojekt von Staat und seiner Partei, der CDU.

Hauptschul-Tsunami

Ole von Beust zeigt sich damit erneut nicht nur flexibel, sondern er ist mit großer Wahrscheinlichkeit klüger als seine Kollegen Ministerpräsidenten aus den fünf großen Bundesländern, in denen drei Viertel der deutschen Schüler lernen. Die Big Five weigern sich trotzig, die Hauptschule abzuschaffen - und dennoch schaffen sie sie ab. In Bayern sind in den letzten Jahren 1.000 Hauptschulen geschlossen worden, in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen steht Hunderten Hauptschulen dasselbe Schicksal bevor. Allerdings sind nicht Ideologen am Werk. Es ist die Demografie, die über die Schulen kommt und die Hauptschulen hinwegspült wie ein Tsunami.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.