Montagsinterview mit Berliner Knast-Chef: "Mein Traum ist Neil Young in der JVA"

Sechs Häftlinge nahmen sich 2009 in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit das Leben. Leiter Wolfgang Fixson über seinen Kampf gegen Suizide und den Traum vom Neil-Young-Konzert im Knast Moabit.

Fixson in der Justizvollzugsansatlt Berlin-Moabit Bild: Detlev Schilke

taz: Herr Fixson, wissen Sie, was Einsamkeit bedeutet?

Wolfgang Fixson: Ich habe eine Ahnung davon. Meine Ehe ist auseinandergegangen. Gott sei Dank bin ich nicht lange allein geblieben. Als Leiter einer Haftanstalt bin ich oft mit dem Problem konfrontiert. Ich glaube, ich kann mich ganz gut in das Empfinden der Gefangenen hineinversetzen.

Können Sie sich vorstellen, wie es ist, in einer Zelle zu sitzen?

Die JVA: Die Justizvollzugsanstalt Moabit wurde 1881 an der Rathenower Straße gebaut und verfügt über 1.100 Plätze. Bis zu 87 Nationen sind unter den Häftlingen vertreten. Etwas weniger als die Häfte der Insassen sind Untersuchungshäftlinge. Die JVA Moabit ist die zweitgrößte U-Haft-Anstalt in Deutschland.

Der Leiter: Wolfgang Fixson wurde 1952 in Berlin geboren und hat hier Jura studiert. Der passionierte Segler ist geschieden und hat eine erwachsene Tochter. Er leitet die JVA seit 1992 so gut wie ohne Skandale. In den 90er-Jahren gab es einige Ausbruchsversuche. Bauliche Veränderungen und Videoüberwachung haben dazu geführt, dass kaum noch ein Insasse die Flucht wagt.

Die Terroristen: Als Regierungsrat zur Anstellung war Fixson in den 80er-Jahren an den Gesprächen mit den im Moabiter Hochsicherheitstrakt einsitzenden Gefangenen der "Bewegung 2. Juni" beteiligt. Ziel war, bei 2.-Juni-Mitgliedern wie Till Meyer - der zuvor gewaltsam aus Moabit befreit worden war - auszuloten, ob sie in den normalen Vollzug verlegt werden können. Der Hochsicherheitstrakt wurde 1989 geschlossen.

Ich habe mal an einem Selbstversuch teilgenommen, Anfang der 80er-Jahre, als Berufsanfänger. Obwohl ich nur ein paar Stunden eingeschlossen war, habe ich es als äußerst bedrückend in Erinnerung.

Mit rund 500 Untersuchungshäftlingen ist die Justizvollzugsanstalt Moabit die zweitgrößte U-Haft-Anstalt Deutschlands. Was genau bedeutet Untersuchungshaft?

Das hängt davon ab, ob der Haftrichter eine strikte Trennung von eventuellen Mittätern angeordnet hat und besondere Sicherheitsverfügungen bestehen. Im Extremfall kann das 23 Stunden Einschluss und eine Stunde Hofgang heißen. In Moabit betrifft das ungefähr 80 Häftlinge. Die übrigen sind 15 bis 20 Stunden allein. Aber es gibt auch Ausnahmen. Wenn es keine richterlichen Auflagen gibt, können sich die Häftlinge aussuchen, ob sie lieber zu zweit, also in Doppelbelegung untergebracht werden wollen. Jeder Insasse hat das Recht, auf eine Einzelunterbringung zu bestehen. Trotzdem ziehen viele eine Doppelbelegung vor.

Was sind das für Insassen?

Meistens haben sie einen Migrationshintergrund. Gerade Gefangenen aus dem asiatischen Raum ist Gemeinschaft sehr wichtig. Wir hatten mal 50 bis 60 Vietnamesen in der Anstalt - vor Jahren, als diese Fülle von Festnahmen wegen Zigarettenhandels war. Für sie war es fast eine schlimmere Strafe, alleine untergebracht zu werden, als im Gefängnis zu sein. Lieber auf zehn Quadratmetern in Doppelbelegung als allein. Auch bei den Insassen aus Polen und dem osteuropäischen Raum ist dieser Wunsch sehr ausgeprägt. Die deutschen dagegen sind in der Regel lieber allein inhaftiert.

Sie sind seit 17 Jahren Anstaltsleiter von Moabit. Hat sich die Insassenklientel in dieser Zeit verändert?

Eindeutig. Nach wie vor sitzen hier immer noch viele Schwerkriminelle wegen Mordes und Raubüberfällen. Aber der Anteil der Inhaftierten, der wegen Beschaffungskriminalität im Zusammenhang mit Drogendelikten, Einbruch und Körperverletzung herkommmt, nimmt immer mehr zu. Diese Klientel kommt in einem erheblich schlechteren Zustand als vor fünf oder zehn Jahren. Die Anstaltsärzte sagen, die Leute seien körperlich zum Teil regelrecht verwahrlost. Auch eine berufliche Qualifikation sucht man oftmals vergebens.

Wie nah kommen Sie den Gefangenen?

Bei einem Durchlauf von 5.000 bis 7.000 Insassen pro Jahr kenne ich natürlich nur wenige. Aber ich gehe täglich durch die Anstalt und rede selbstverständlich mit jedem, der mich anspricht. Ich lese auch jeden Brief, der direkt an mich adressiert ist. Briefe in ausländischer Sprache lasse ich mir übersetzen. Wenn ich das Gefühl habe, es handelt sich um ein berechtigtes Anliegen, kümmere ich mich selbst darum.

Was kann das sein?

Die Qualität des Essens. Dass einer schon lange auf Arbeit wartet. Gerade Migranten klagen oft über mangelnde Kontaktmöglichkeiten.

Womit wir wieder beim Thema Einsamkeit wären. Nicht jeder Inhaftierte ist vermutlich in der Lage, seine seelischen Nöte zu artikulieren.

Gerade Männer verstecken sich oft hinter einer harten Außenschale. Das ist einer der Gründe, warum wir großen Wert auf einfühlsames Personal legen. Die JVA Moabit war 1992 die erste große Männerhaftanstalt Deutschlands, die weibliche Bedienstete in größerer Zahl eingestellt hat. Frauen sind extrem wichtig für das Klima in der Anstalt. Ich bin der festen Überzeugung, dass sie eine andere Antenne dafür haben, wenn jemand ein ernsthaftes Problem hat.

Was ist für einen Untersuchungshäftling die kritischste Phase?

Der Moment der Inhaftierung. Der Haftschock. Man wird plötzlich aus dem Leben gerissen. Oder wenn sich das Gerichtsverfahren dem Ende nähert. Wenn man mit einem milden Urteil oder gar Freispruch gerechnet hat und acht Jahre Haft bekommt. Das ist ein ganz massiver Einschnitt. Da sind wir sehr wachsam. Oder wenn die Lebensgefährtin dem inhaftierten Partner die Beziehung aufkündigt, weil sie einen anderen hat.

Bekommen Sie das denn mit?

Bisweilen schon. Die Sprechzeiten von U-Häftlingen mit Angehörigen werden von Bediensteten überwacht. Wenn das Personal mitbekommt, dass sich die Partnerin trennt - es wird dabei ja auch mal lautstark -, wird sofort der Sozialdienst eingeschaltet. Das sind die Dinge, aus denen auch Kurzschlussreaktionen entstehen.

Inwiefern Kurzschluss?

Selbstmord oder Selbstmordversuch.

Wie viele Gefangene haben sich in diesem Jahr das Leben genommen?

Wir hatten die erschreckend hohe Zahl von sechs Suiziden. 2008 und 2007 hatten wir jeweils einen Selbstmord. 2006 waren es acht Suizide, 2005 gab es drei. Die Statistik verläuft in Wellenbewegungen. Auffällig ist, dass es bei uns in der Weihnachtszeit und zwischen den Jahren ganz selten einen Selbstmord gegeben hat.

Wie erklären Sie sich das?

Dafür habe ich überhaupt keine Erklärung. Wir haben vergeblich versucht, Schemata zu entwickeln. Auch die sechs Suizide in diesem Jahr sind alle unterschiedlich. Wir hatten mal die These, die ersten 14 Tage in Haft sind besonders kritisch. Dann nach drei Monaten. Dann nach sechs Monaten. Es ist überhaupt kein System drin. In der Suizidforschung gibt es die These von der sogenannten Kettenreaktion. Nachdem sich Robert Enke umgebracht hat …

der Torwart von Hannover 96 litt unter Depressionen. Im November hat er sich vor einen Zug geworfen …

… nach Enkes Tod haben in Deutschland täglich 15 Menschen auf Eisenbahnschienen den Freitod gesucht. Vorher war es am Tag einer. Die Fälle stiegen schlagartig an. Auch wir hatten in der Zeit einen Selbstmord. Das kann Zufall sein, muss es aber nicht. Wir wissen, dass wir unheimlich aufpassen müssen, dass aus einem Selbstmord in der Anstalt keine Kettenreaktion entsteht.

Wie kommt das Justizpersonal damit klar?

Für die Bediensteten ist das natürlich ein großer Schock. Sie schließen morgens die Zelle auf und finden den Insassen. Für viele ist es der erste Kontakt mit dem Tod. In der Regel handelt es sich um einen Selbstmord durch Erhängen. Den Mitarbeitern ist freigestellt, nach so einem Erlebnis nach Hause zu gehen, die meisten arbeiten erfahrungsgemäß aber weiter. Selbstverständlich bieten wir auch psychologische Betreuung an.

Werden Untersuchungshäftlingen nicht generell Gürtel und Schnürsenkel abgenommen?

Nein. Ich halte das für eine Frage der Menschenwürde. Ich habe immer das Bild der Prozesse vor dem Volksgerichtshof im Dritten Reich vor Augen, wie der Angeklagte seine Hosen festhalten muss. Dieses Bild hat mich sehr geprägt. Die Würde des Menschen muss gewahrt bleiben.

Ist das Ihr Leitbild?

Durchaus. Wenn jemand eine freie Entscheidung trifft und jede Hilfe ablehnt, muss man das ab einem gewissen Stadium respektieren. Das heißt nicht, dass ich nicht alles dransetze, einen Suizid zu verhindern. Außerdem - wenn man den Gürtel wegnimmt, zerschneidet er das Bettlaken. Soll der Mensch in Papierbettwäsche schlafen?

Gibt es Abschiedsbriefe?

Ein Gefangener, der in einer Kurzschlussreaktion handelt, weil er im psychischen Drogenentzug ist, wird kaum einen Abschiedsbrief hinterlassen. Anders verhält es sich in Fällen, wo ein Mensch einen Bilanzselbstmord begeht, weil er seine Ehefrau umgebracht hat und nicht mehr leben will. Oftmals handelt es sich um sehr private Gründe. Wir werten alles genau aus, schon allein um zu gucken, ob wir vielleicht doch eine Chance gehabt hätten, es zu verhindern.

In der JVA Moabit wurde viel für die Suizidprophylaxe getan: Häftlingen werden Gespräche mit Sozialarbeitern, Psychologen und Geistlichen angeboten, es gibt Beobachtung, Verlegung in eine Gemeinschaftszelle oder ins Krankenhaus. Was könnte man denn sonst noch tun?

Meine Vision ist, dass jeder Insasse, der neu in die Anstalt kommt, zwei Wochen auf einer Eingangsstation einer intensiven Diagnostik unterzogen wird. 2012, wenn die JVA Moabit durch das neue Männergefängnis Heidering in Brandenburg entlastet wird, möchte ich versuchen, das anzugehen. Im Moment gibt es für so eine Station noch keinen Platz.

Was würden Sie eigentlich tun, wenn Sie 23 Stunden am Tag unter Verschluss wären?

Ich würde viel lesen. Außerdem würde ich fernsehen. In den Zellen gibt es Kabelfernsehen. 29 Sender in elf Sprachen. Vor allem aber würde ich Musik hören. Ein Untersuchungshäftling darf bis zu 20 CDs in der Zelle haben. Das würde ich voll ausreizen.

Was hören Sie am liebsten?

Rockmusik.

Und was legen Sie auf, wenn Sie die Einsamkeit überkommt?

Neil Young.

Also richtige Leidensmusik.

Schon. Young hat aber auch sehr belebende Songs geschrieben. Darüber könnte man lange philosophieren. Ich bin ein großer Fan von ihm. Ich glaube, ich habe kein Konzert versäumt, das er in den letzten zehn Jahren in Berlin gegeben hat. Mein Traum ist, ihn zu einem Konzert für die Gefangenen in die JVA Moabit zu holen.

Wie bitte?

Rockmusiker wie Johnny Cash haben im amerikanischen Gefängniswesen viel bewegt. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Neil Young so was von seinem sozialen und politischen Anspruch her machen würde.

Vielleicht versuchen Sie es erst einmal eine Nummer kleiner?

Das machen wir schon. Hier drinnen gab es schon einige Konzerte. 2007 war einer der weltbesten Cellisten, Peter Bruns, in der Anstalt. Er spielte auf einem Instrument aus dem Nachlass des spanischen Cellisten Pablo Casals, der ähnliche Projekte gemacht hatte. Viele Insassen hatten zuvor noch nie ein klassisches Konzert gehört. Es herrschte eine fast andächtige Stille.

Haben Sie manchmal Mitleid mit den Häftlingen?

Auf jeden Fall. Nicht jeder hat das Glück, in einer geordneten Familie aufzuwachsen. Manche sind in ärmsten Verhältnissen groß geworden. Vater oder Mutter haben nicht eingegriffen, als sie anfingen, aus dem Ruder zu laufen. Trotzdem wird deshalb natürlich nicht jeder kriminell.

Aus was für einem Elternhaus kommen Sie?

Ich bin in Charlottenburg in einem gutbürgerlichen Elternhaus groß geworden. Mein Vater war Bankkaufmann, meine Mutter Sekretärin.

Sie haben im Jahr 1968 Abitur gemacht und dann Jura studiert. Würden Sie sich als 68er bezeichnen?

Die Zeit hat mich schon geprägt in dem Sinne, dass ich staatliches Handeln kritisch reflektiere. Und dass der Weg des Terrorismus nicht der richtige sein kann. Ich habe eine absolute Abneigung gegen Gewalt. Deswegen habe ich kein Verständnis dafür, wenn auf einer Demonstration Steine geschmissen werden. Genauso, wie ich den schlagenden Polizisten nicht akzeptieren kann. Ich lege großen Wert darauf, dass hier in der Anstalt keine Übergriffe gegen Gefangene erfolgen. Das ist etwas, wo ich äußert allergisch reagieren würde.

Ist es nicht auch Gewalt, Menschen einzusperren?

Durchaus. Aber ich sehe derzeit keine Alternative, dass eine Gesellschaft ohne Gefängnisse auskommt.

Was wird das Jahr 2010 für die Untersuchungshäftlinge bringen?

Eine Verdoppelung der Besuchsstunden. Am 1. Januar 2010 tritt das neue Berliner Untersuchungshaftgesetz in Kraft. Jetzt hat jeder U-Häftling eine Besuchsstunde im Monat. In Zukunft werden es zwei sein.

Und was ist mit dem Brief an Neil Young? Haben Sie den schon aufgesetzt?

Es gibt Dinge im Leben, da träumt man von, schiebt sie aber immer wieder hinaus, vielleicht auch, weil man die Chancen als gering ansieht.

Das hört sich ja wie ein Rückzieher an.

Das täuscht. 2010 macht Neil Young keine Tournee. Zumindest ist keine auf seiner Website angekündigt. Keine Sorge, ich bleibe dran.

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