14-jähriger Demonstrant leidet unter Amnesie: Erinnerung ausgelöscht

Ein 14-Jähriger geht auf eine Demo, sieben Stunden später liegt er mit Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Was passierte, weiß er nicht. Zur fraglichen Zeit war er in Polizeigewahrsam.

Keine Erinnerung mehr: sieben Stunden sind weg. Bild: himberry/photocase

Sieben Stunden im Leben von Noel sind weg. Einfach gestrichen. Stattdessen - ein schwarzes Loch. Das Letzte, an das sich der 14-jährige Schüler erinnern kann: Er sitzt mit seinem Freund Tobias in der U-Bahn und isst Popcorn. Es ist Freitagnachmittag, der 20. November. Die Jungs sind auf dem Weg zum Hotel Adlon am Brandenburger Tor, wo Studierende im Rahmen des Bildungsstreiks ein Managertreffen stören wollen. Sie sind dort mit vier Freunden verabredet. Ob er am Adlon angekommen ist, daran erinnert sich Noel nicht. Und auch der Rest des Tages ist in seinem Kopf wie ausradiert.

Erst um Mitternacht setzt das Erinnerungsvermögen des Schülers wieder ein. Er liegt im Westend-Krankenhaus, seine linke Schläfe ist geschwollen. Die Ärzte diagnostizieren eine Gehirnerschütterung. Was die Amnesie ausgelöst hat, ist unklar. Noel ist vollkommen durcheinander. "Was mach ich hier? Was ist passiert? War was mit der Polizei?", fragt er seine Eltern noch in der Klinik. Marco und Anna B. wissen keine Antwort - bis heute nicht.

Zumindest müsste die Polizei etwas darüber wissen, wie es zu der Kopfverletzung und dem wohl darauf zurückzuführenden Gedächtnisverlust kam. Denn die Zeit, in der der Vorfall geschehen sein muss, lässt sich ziemlich genau eingrenzen: zwischen 18 und 19.45 Uhr. Und während dieser knapp zwei Stunden war der Junge in Polizeigewahrsam.

Noels Freunde sagen, sie hätten ihn um kurz nach 18 Uhr auf der Straße Unter den Linden aus den Augen verloren. Noel habe Flyer für die tags drauf stattfindende Silvio-Meier-Demonstration verteilt. Um 18.10 Uhr wird er laut Polizei "auf der Straße Unter den Linden/ Glinkastraße/ Neustädtische Straße" festgenommen. Dazu teilt deren Pressestelle auf Anfrage mit: Der Jugendliche sei im Zusammenhang mit der Protestaktion gegen das Managertreffen im Adlon von Beamten beobachtet worden, wie er versuchte, Flyer an einem BVG-Bus anzubringen. Die Polizei beanstandet die kleinen Flugblätter: "Das Fehlen des Impressums stellt einen Verstoß gegen das Pressegesetz dar." Deshalb sei gegen Noel eine Ordnungswidrigkeitenanzeige erstattet worden.

Der Jugendliche habe sich nicht in Begleitung befunden, so die Pressestelle der Polizei weiter. Die Festnahme sei durch einen uniformierten Beamten erfolgt, der ihn einem "Bearbeitungstrupp" übergeben habe. In einem Gruppenwagen sei Noel von zwei Beamten des Trupps nach Hause transportiert worden. Dort hätten die Beamten aber keinen Erziehungsberechtigten angetroffen. Deshalb sei der Junge "gegen 19.30 Uhr" beim Jugendnotdienst in Charlottenburg abgegeben worden. "Es gab keine Hinweise auf eine körperliche oder geistige Einschränkung seitens des Jugendlichen", betont die Pressestelle.

Der Bericht des Jugendnotdienstes, der der taz vorliegt, liest sich ganz anders. Um 19.45 Uhr sei Noel von einer Polizistin und einem Polizisten gebracht worden, heißt es. Die Beamten hätten gesagt, der Junge sei auf einer Demonstration festgenommen worden. Er habe dort selbst geschriebene Flugblätter verteilt. Bereits auf der Fahrt sei den Polizisten aufgefallen, dass Noel etwas desorientiert wirkte. So habe er immer das Gleiche gefragt und die Antworten anscheinend nicht registriert, so der Bericht des Notdienstes.

Wenige Minuten nach Noels Eintreffen ruft eine Sozialarbeiterin den Rettungswagen, der den Jungen ins Krankenhaus bringt. Noel habe über "sehr starke Kopfschmerzen" geklagt, so der Bericht. "Er umfasste immer wieder seinen Kopf, sagte, dass ihm der Kopf platze, war sehr unruhig und die Augen tränten ihm. Sein Gesicht war rotgefärbt." Er wisse nicht, was an dem Nachmittag geschehen sei, habe der Junge gesagt.

Normalerweise bekommt der Jugendnotdienst von der Polizei einen Tätigkeitsbericht, aus dem hervorgeht, warum der Jugendliche gebracht wird und was vorgefallen ist. Nicht in diesem Fall. "Wir wissen nicht, was passiert ist", sagt Notdienst-Mitarbeiterin Beate Köhn. "Das ist ungewöhnlich." Als der Jugendnotdienst am nächsten Tag beim Polizeiabschnitt 53 nachfragt, lautet die Auskunft: Es gebe keinen Tätigkeitsbericht, weil Noel "von einer mobilen Einsatzgruppe" aufgegriffen worden sei. Nicht nur dass es keinen Tätigkeitsbericht gibt, erstaunt. Mobile Einsatzgruppe ist der Fachausdruck für Zivilfahnder, die zur Observation eingesetzt werden. Dabei erklärt die Polizeipressestelle, Noel sei von einem uniformierten Beamten festgenommen worden.

"Es macht einem panische Angst, wenn man nicht weiß, was passiert ist", sagt Noel - ein 1,86 Meter großer Jugendlicher mit kurzen schwarzen Haaren und wachem Blick. An jenem Freitag trug er eine dunkelblaue Winterjacke, Jeans und weiße Turnschuhe. Auf dem Kopf hatte er ein rotes Basecap. Den Ausweis hatte er zu Hause vergessen.

Der 14-Jährige werde oft für älter gehalten, erzählen seine Eltern. Noel sei ziemlich schlagfertig. "Er knickt nicht vor Autoritäten ein, verteidigt seine Positionen", sagt seine Mutter Anna. Nicht jeder könne das ab. Auch mit Polizisten diskutiert Noel gern, sagt sein Vater Marco, der den Sohn oft zu Demos begleitet.

Auch am 20. November hat Noel mit Polizisten gesprochen, an der Absperrung vor dem Adlon. Das berichten die Freunde, mit denen er unterwegs war. Noel habe zwei vermeintliche Passanten als Zivilpolizisten identifiziert und sich mit ihnen unterhalten, sagt eine Freundin, die zu der Gruppe gehörte. Diese Szene habe sich gegen 17.50 Uhr abgespielt. "Die Zivilpolizisten gaben zu, dass sie welche waren. Danach gingen wir weiter und erzählten anderen Demonstranten, dass es sich um Zivilpolizisten handelt."

Tobias - der Junge, mit dem Noel von Anfang an unterwegs war - hat mitbekommen, wie sein Freund versuchte, Polizisten mit der Rückenkennung E3 einige seiner Flyer anzudrehen. Die Beamten hätten ziemlich gereizt reagiert, sagt Tobias. Ein Polizist - hier X genannt - habe Noel hinterhergerufen: "Dich merk ich mir an der roten Mütze."

Auf dem Bebelplatz begegnen die Jugendlichen später der E3-Einheit wieder - laut Polizei war Noel da schon festgenommen worden, wovon die Freunde aber nichts wissen. Mit der Bemerkung: "Du bist doch der Kumpel von dem mit dem roten Käppi", habe sich derselbe Beamte X vor ihm aufgebaut, berichtet Tobias, und ihn aufgefordert sich auszuweisen. Und er habe auch nach dem Namen des Jungen mit dem roten Käppi gefragt, berichtet Tobias, der sich jedoch weigert, Noels Namen zu nennen. Der Beamte habe ihm daraufhin mit einer Anzeige gedroht: Er habe kein Recht auf Aussageverweigerung, sei erst 14 und solle nicht auf Möchtegern-Autonomer machen. Der Einschüchterungsversuch funktioniert: "Nach Zögern nenne ich Noels Vor- und Nachnamen", sagt Tobias.

Urplötzlich entspannt sich die Situation. Der Beamte X "wirkte irgendwie erleichtert". Kurz darauf steigen die Beamten in den Gruppenwagen und fahren ab. Warum X unbedingt Noels Namen brauchte, ist unklar: Lag der 14-Jährige da schon desorientiert im Polizeiwagen und niemand wusste, wohin mit ihm? Und wenn es so war: Warum war Noel desorientiert?

Die zweite Begegnung mit X habe sich gegen 18.45 abgespielt, schätzt eine Freundin, die dabei war. Kurz darauf, gegen 19 Uhr, versuchen Polizisten erfolglos, Noel zu Hause abzuliefern. War einer der Beamten X?

"Warum hat ihn die Polizei nicht gleich ins Krankenhaus gebracht?", fragt sich sein Vater. Marco und Anna B. fordern von der Polizei Aufklärung.

Noel kommt aus einem akademischen Elternhaus. Sein Vater und seine Mutter sind in der Medienbranche tätig. Seit einem Jahr geht der 14-Jährige auf Demos: gegen Nazis, gegen Atomkraft, für bessere Bildung, gegen Gentrifizierung und für den Erhalt des Mauerpark - alles, was links ist. Anders als seinen älteren Bruder habe es Noel schon früh hinausgedrängt, sagt seine Mutter. "Er hat fundierte Meinungen, aber Gewalt lehnt er ab." Weil die Eltern ihr Kind nicht zu Hause anbinden wollen, geht Vater Marco jetzt oft mit zu den Protesten. Er hat Angst um seinen Sohn, Eltern aus dem Bekanntenkreis erginge es ähnlich. "Die Jugendlichen auf den Demos werden immer jünger", hat Anna beobachtet. Ohne ihnen die politische Ernsthaftigkeit absprechen zu wollen, hat sie den Eindruck, dass die radikalen Demos für die Youngsters wie ein Pfadfinderlager sind. "Sie ziehen sich schwarze Klamotten an und wissen gar nicht, was für ein Signal sie damit aussenden." Die Stimmung sei aufgepuscht: im schwarzen Block genauso wie bei der Polizei.

In diesem Winter wird es noch viele Antifa-Demonstrationen geben. Anna B. schlägt vor, dass Polizisten der Einsatzhundertschaften und jugendliche Demonstranten fernab vom Einsatzgeschehen zu einem Erfahrungsaustausch zusammenkommen. Das Treffen könnte beiden Seiten dazu dienen, mit Vorurteilen aufzuräumen und ohne Stress herauszufinden, wie es dem anderen ergeht. "Statt Konfrontation Dialog", wünscht sich die Mutter. "Noel möchte auch immer mit Polizisten diskutieren, um deren menschliche Seite kennenzulernen."

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