Präsidentschaftskandidat in Uruguay: Der Schlipslose

Er ist die schillerndste Figur in der politischen Szene Uruguays. José Mujica hat die Ausstrahlung eines gutmütigen Großvaters. Der ehemalige Guerillero will am Sonntag Präsident werden.

Seinerzeit der gefürchtetste Tupamaru-Rebell - heute Präsidentschaftskandidat. Bild: dpa

"Mit diesem Typen kann man doch keinen Staat machen", schimpft Taxifahrer Arnaldo Sánchez, "wie der schon aussieht!" Kein Zweifel, José Mujica polarisiert bereits durch seine Erscheinung. Für die Wahlkampfplakate hat man den Präsidentschaftskandidaten des regierenden Linksbündnisses Frente Amplio (Breite Front) zwar nach Kräften herausgeputzt, aber wer lässt sich im Dreieinhalb-Millionen-Land Uruguay von solchen Details beeindrucken?

Andererseits: Würde der 75-jährige Exguerillero mit der Ausstrahlung eines gutmütigen Großvaters nicht gut zu jenen linken Präsidenten in Südamerika passen, deren Werdegang ebenso wenig konventionell war? "Sobald Lateinamerika seine kulturelle Unabhängigkeit erlangt hat", sagte er schon vor Jahren, "verbrennen wir die Krawatten." Da ist was dran: Der Indígena Evo Morales aus Bolivien und der paraguayische Befreiungstheologe Fernando Lugo zeigen mittlerweile, dass es sich auch ohne Schlips ganz gut regieren lässt.

1995, als Mujica, den seine Anhänger nur "Pepe" nennen, als frischgebackener Abgeordneter mit klapprigem Moped und abgewetzten Jeans zu seiner ersten Parlamentssitzung kam, deutete der Wachsoldat auf den Hintereingang und fragte ihn: "Wollen Sie lange bleiben?" Die Antwort: "Wenn Sie mich lassen, fünf Jahre." Seither hat sich Mujica zur schillerndsten Figur in der politischen Szene Uruguays gemausert und wirkt dabei authentisch wie eh und je. Auch die eher bescheidenen Ergebnisse seiner Amtszeit als Agrarminister änderten daran nichts.

Als sich der schnurrbärtige Mann mit Baskenmütze, blauem Anorak und Jeans den Weg in die schmucklose Halle im Osten Montevideos bahnt, wo sonst die Gewerkschafter der selbstverwalteten Reifenfirma Funsa tagen, bricht Jubel aus. Vorne schnappt er sich das Mikrofon und lobt zuerst den populären Präsidenten Tabaré Vázquez, dem die Verfassung keine direkte Wiederwahl gestattet, als "brillanten Arzt". Für seinen Kontrahenten, den rechtsliberalen Luis Alberto Lacalle, sei "das Leben ein Wettbewerb, in dem die Sieger belohnt und die Verlierer bestraft werden. "Das Fühlenkönnen, das ist der entscheidende Unterschied zwischen links und rechts".

Dann formuliert er wieder bedächtig und würzt die 35-Minuten-Rede mit selbstironischen Bemerkungen: "Es gab einmal eine Zeit, da waren wir perfekt, kohärent. Die wilden Zentralkomitees, die Kontrollkommissionen, die Veteranen unter uns erinnern sich", grinst er und warnt davor, innerhalb des Regierungslagers Gräben aufzureißen: "Die Krankheit des Sektierertums ist unsere Achillesferse." Vielmehr müssten die Mitglieder der schon 1971 gegründeten Breiten Front jene einfachen Leute, die immer noch die rechten Parteien wählen, "mit Geduld und großem Respekt" umstimmen.

Als "Geste an das Establishment" hat Mujica seinen früheren Kabinettskollegen Danilo Astori, den er bei den Vorwahlen besiegt hatte, als Vize mit ins Boot genommen. Als Finanzminister hatte der Sozialdemokrat rasch die Furcht von Investoren und Bankenszene vor einer Linksregierung zerstreut und einen ähnlich konservativen Kurs gesteuert wie seine Kollegen in Brasilien oder Chile.

Beides tut not, die Überzeugungsarbeit an der Basis und die Beruhigung des Bürgertums. Denn in den Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen liegt Mujica mit 45 Prozent zwar deutlich in Front, doch verpasst er am Sonntag die absolute Mehrheit, muss er Ende November gegen den Expräsidenten Lacalle in die Stichwahl. Und bis dahin dürften sich die Gegner noch mehr auf seine Vergangenheit als linker Guerillero einschießen.

In den frühen Sechzigerjahren gehörte Mujica, der damals seinen Lebensunterhalt als Blumenzüchter außerhalb von Montevideo verdiente, zum Gründungszirkel der Tupamaro-Stadtguerilla. Einmal wurde er angeschossen und viermal verhaftet, zweimal gelang ihm die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis Punta Carretas. Getötet habe er nie, sagt er. Fast 15 Jahre verbrachte er in Haft, während des Militärregimes von 1973 bis 1985 als eine der "Geiseln" des Regimes, denen bei Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs die Hinrichtung drohte. Reue zeigt er nicht, im Gegenteil: "Am meisten bereue ich, dass wir es nicht geschafft haben, die Diktatur mit Fußtritten zu beenden."

Bei den Tupamaros lernte er auch die 11 Jahre jüngere Lucía Topolansky kennen und lieben. Noch immer wohnen die beiden in ihrem schlichten Haus vor den Toren Montevideos, vor vier Jahren heirateten sie. Derzeit amtieren beide als Senatoren für die "Bewegung für Volksbeteiligung" (MPP), die mittlerweile größte Gruppe der Breiten Front.

Seinem langjährigen Genossen Julio Marenales ist die Wandlung des José Mujica nicht ganz geheuer. "Für mich ist er ein Fragezeichen", sagt der temperamentvolle, weißhaarige Mann vor einem Che-Guevara-Poster im MPP-Hauptquartier. "Es ist schwer zu wissen, was Pepe wirklich denkt", sagt Marenales, "wir haben in letzter Zeit wenig miteinander geredet."

Als größte Erfolge der seit März 2005 amtierenden Linksregierung bezeichnet der alte Aktivist den deutlichen Rückgang der Armut auf 20 Prozent, die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die "Sorge" um Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen. "Andererseits wird die Kluft zwischen Reichen und Armen größer, wir wissen nicht, wie wir mit den ausländischen Investoren umgehen sollen, und vor allem haben wir immer noch kein klares Projekt für unser Land", bedauert Marenales.

Unter Tabaré Váquez, Astori und Mujica habe sich die Breite Front von dem Ziel entfernt, Uruguay "zusammen mit dem Volk" zu verändern. Könnte ein Präsident Mujica diesen Trend umdrehen? Hat der alte Fuchs im Wahlkampf nur Kreide gefressen? Marenales zuckt mit den Schultern. "Es könnte ein interessantes Experiment werden, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Pepe wird zusammen mit Leuten regieren, die ganz anders denken als er."

Umweltaktivisten, die sich gegen die Umwandlung riesiger Landstriche in Eukalyptusplantagen für die Zelluloseproduktion wehren, sind noch skeptischer, ebenso der Menschenrechtsanwalt Ramiro Chimuris: "Mujica sagt dir, was du hören willst." Mit seinem erklärten Vorbild Lula da Silva aus Brasilien teile er den Pragmatismus des Machtpolitikers, etwa beim Thema Vergangenheitsbewältigung.

Am Sonntag stimmen die UruguayerInnen auch darüber ab, ob ein umstrittenes Amnestiegesetz aus dem Jahr 1986 annulliert wird. Damit würde eine umfassende strafrechtliche Verfolgung der Folterer und Mörder in Uniform möglich.

Doch die Latte liegt hoch: Erforderlich ist die absolute Mehrheit aller abgegebenen Stimmen. Wie andere linke Spitzenpolitiker hat Mujica seine Unterschrift zum Zustandekommen des Referendums geleistet, aber das war eher eine Pflichtübung. "Ich will keine alten Militärs im Gefängnis haben", gab er neulich zu, "man muss für die Menschenrechte der Lebenden kämpfen".

"Was ich durchgemacht habe, kann keiner wiedergutmachen", sagt Mujica in Anspielung auf Folter und Isolationshaft, Wahrheit sei wichtiger als Rache. Geständnisse würde er am liebsten mit Straferlass honorieren - doch das sieht das uruguayische Rechtssystem nicht vor.

Seinem Ruf als Querdenker, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wird Mujica im neuen Buch "Gespräche mit Pepe" gerecht. Für Aufregung sorgten vor allem flapsige Bemerkungen über die regierenden Peronisten im benachbarten Argentinien. Außerdem wendet er sich gegen "autoritäre" Sozialismusmodelle à la Kuba und Venezuela, zieht über die wuchernde Bürokratie in Uruguay her und sagt: "Wir glauben, dass der Kapitalismus so gut wie möglich funktionieren sollte, und versuchen dabei sozialistische Räume zu schaffen und auszuweiten", etwa selbstverwaltete Betriebe.

Neulich fügte er hinzu: "Ich nehme mir nicht mehr vor, die Welt zu verändern. Ich möchte nur ein paar Sprossen höher kommen. Andere werden weitermachen."

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